Heft 
(2020) 109
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64 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Obsolete Gesten Siegel und Brief in Theodor Fontanes Romanen Nils C. Ritter Einleitung oder: Können Kulturtechniken obsolet werden? 1865, am Vorabend der Einführung von Postkarten, bezeichnet der spätere Generalpostdirektor des Deutschen Reiches, Heinrich von Stephan in einer Denkschrift die Wandlung des Briefes von antiker Schriftrolle zum moder­nen Briefumschlag als Geschichte der Vereinfachung und Verkleinerung. Diese sei geprägt durch»achtbare Bräuche,[] flüchtige Moden wie[] ge­schäftliche Bedürfnisse«. 1 Von Stephan beschreibt damit die wesentlichen materiellen und logistischen Bedingungen des»Gedankentransports« 2 Brief und ebenso die Vitalität und Kontingenz einer Kulturtechnik. Von Stephan übersieht jedoch, dass sich Gebrauchsroutinen von ihren Bedingungen lö­sen können. Denn die alten und langlebigen Kulturtechniken, die das Sys­tem Brief formen und prägen, unterliegen nicht unbedingt quasi-evolutio­nären Wandlungen, sondern können sich im Reproduzieren mitunter selbst überleben. Ab dem Moment ihrer technischen, administrativen oder auch gesellschaftlichen Überholung werden sie dann zu Relikten kultureller Prak­tiken und gehen in ein Bewusstsein über, das man durchaus als ein archäo­logisches bezeichnen kann. Denn Archäologie kann auch die jeweili­ge Gegenwart erforschen, sie sucht nicht unbedingt nur nach dem Alten, sondern nach dem heute noch wirksamen, indem sie Bedingungen der Ge­genwart offenlegt, die mitunter in uralten Kulturtechniken zurückverfolgt werden können. 3 Häufig manifestieren sich solche Praktiken in der Repro­duktion von Mensch-Ding-Bewegungen. Die Büroklammer beispielsweise ist so ein Ding, das trotz ubiquitärer Präsenz nicht ins Bewusstsein ein­dringt, jedoch stets präsent ist. Sie ist dem Gestaltungstheoretiker Gert Selle­zufolge Teil einer Struktur, die aus Ritualen, Gesten und Erfahrungsin­terpretationen täglicher Wahrnehmung besteht. 4 Dinge können also selbst­verständlich werden, kollektive Gebrauchserfahrungen vertreten, die teils unbewusst ablaufen, sich scheinbar von selbst reproduzieren und unterhalb