Heft 
(2020) 109
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Obsolete Gesten Siegel und Brief  Ritter 65 des Radars eines Bewusstseins in alltägliche Handlungen und Bewegungen integriert sind. Die Widerspenstigkeit, Banalität und Obsoleszenz einer archäologisch gewordenen, einer überdauerten Kulturtechnik, kann paradigmatisch an­hand der Objektkategorie der Siegel in den Romanen Theodor Fontanes als eines aufmerksamen Beobachters der Präsenz, Ökonomie und auch Obso­leszenz solcher scheinbar unbewusster Prozesse nachgezeichnet werden, wie bei kaum einem anderen Autor des 19. Jahrhunderts. 5 In den Texten Fontanes wird die Kulturtechnik des Siegelns, die aus fernsten Vergangen­heiten stammt, nicht nur mit der jeweiligen Gegenwart verbunden, sondern Fontane geht noch einen Schritt weiter: In der Kulturtechnik des Siegelns offenbaren seine Figuren von Vor dem Sturm bis Mathilde Möhring schein­bar en passant ein beginnendes Schwellenbewusstsein für die eigene Zeit­lichkeit, für zeitliche Widerstände, für die Prozessualität und Abgeschlos­senheit von Vergangenheiten. Damit, so die zentrale These dieses Beitrags, werden Fontanes Texte zum Seismographen und gleichermaßen Produzen­ten beginnender Kommunikations- und Mentalitätswandel im späten 19. Jahrhundert. Siegel als Akteure die Botschaft des Siegelns Doch bevor wir einen kursorischen Blick auf die siegelnden Figuren in ­Fontanes Romanen werfen, sei kurz auf die grundständigen Funktionen von Siegeln, die eingeschriebenen Eigenschaften und Botschaften des Ver­siegelns und darin die poetischen Potentiale dieser uralten Kulturtechnik verwiesen. Versiegeln ist seit dem Altertum in administrativen, ökonomischen wie privaten Kommunikationsprozessen Signum von Autorität, Authentizität, Sicherung und Identität. Zudem ist es als Surrogat des Siegelnden persönli­che oder institutionelle Signatur. Ein Siegel bürgt für den Absender, bestä­tigt und reproduziert zugleich ein ganzes Ordnungssystem. Ein Siegel ist Materielles und Ideelles zugleich, Werkzeug und Symbol. Siegelungen sind in nahezu allen Schriftkulturen belegt. Die Anfänge reichen zurück in die beginnende Schriftlichkeit in Mesopotamien in der frühen Bronzezeit. 6 Ein Siegel besitzt eine Oberfläche mit negativ eingravierter Darstellung figürli­cher, heraldischer, schriftlicher Natur. Beim Abdruck auf eine zunächst wei­che, später erhärtende Masse, also Ton, Wachs oder Lack, hinterlässt es ei­nen Abdruck in Relief. Erst jetzt ist seine Botschaft im Raum präsent und wirksam. Im Akt des Siegelns kann sich das Objekt theoretisch endlos re­produzieren und in den Raum einschreiben. Dies hat für die Bildlichkeit von Siegeln Konsequenzen, zumal für in funktionale Prozesse eingebundene Bilder und deren Strategien zur Aufmerksamkeitszuwendung. 7