66 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Bilder erzeugen – wahrnehmungspsychologisch gesprochen – ein Glaubhaftigkeitsplus. Wie Klaus Sachs-Hombach betont, ist die Neigung des Betrachters, etwas für wahr und gültig zu halten, bei Bildern höher als bei Schrift. 8 Sie ermöglichen durch die hohe Geschwindigkeit der optischen Aufnahme auch ohne verbale Übersetzung eine rationale oder emotionale Erschließung und schaffen eine spezifische Dynamik des Erkennens und Erinnerns. 9 Mittels dieses Effekts legitimiert das Bild den Siegelnden und dessen Absicht. Im Gegensatz zu Schriftträgern und Kommunikationsweisen haben sich die Praktiken und Funktionen des Siegelns kaum verändert. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bestand ein Brief in der Regel aus einem zusammengefalteten Papierbogen ohne Umschlag mit Versiegelung. Danach sind Siegelungen durch die Einführung von Briefumschlägen, Poststempel, einheitlichem Porto für Standardbriefe mit Briefmarken(ab 1867), Briefkästen und standardisierten Postzeiten im Grunde obsolet geworden. Dennoch wurden v.a. private Briefe weiterhin versiegelt, mit einer Ausnahme: Bei der 1870 eingeführten Postkarte, die zunehmend briefliche Kurzkommunikation ersetzte, wurde auf das Siegeln weitgehend von Beginn an verzichtet. 10 In den Texten des 19. Jahrhunderts ist das Versiegeln von Briefen und sonstigen schützenswerten oder zirkulierenden Objekten ubiquitär. Doch als kollektive Gebrauchserfahrung werden Siegel vor dem Hintergrund ihrer ab Mitte des Jahrhunderts zunehmenden Obsoleszenz auffallend. Sie treten als Träger einer uralten Kulturtechnik auf, zugleich präsentieren sie sich als Produzenten eines sich selbst reproduzierenden Ordnungssystems. Der Akt des Versiegelns transformiert das Schriftstück in einen Zwischenstatus: Es ist markiert und verschlossen, Absender und Adressat werden deutlich, ein Innen und Außen geschaffen, Kommunikation affirmiert. Der Text wird durch den applizierten Siegellack in seiner Materialität bestätigt und verstärkt. Zugleich verschließt und schützt die Siegelung den Text, was sie zu einem temporären Akt macht, da Siegelungen erbrochen werden, sobald der Text lesbar werden soll. Der Abdruck reichert das Geschriebene also mit eigener Materialität an, die – nach Aleida Assmann – zu einem unablösbaren Teil seiner Bedeutung wird. 11 Hierzu bedarf es also folgender materialer Grundlagen: Petschaft, Siegelwachs, Kerze, Papier, Stift, Umschlag. Der profane Charakter des Verschließens qua Siegel erscheint in den meisten Texten Fontanes in einer frappanten Häufigkeit und Geläufigkeit. Doch seine Texte bergen noch eine singuläre Besonderheit, findet doch in den Partien der Romane, in denen Briefe geschrieben, versendet, zugestellt, geöffnet und gelesen werden, eine Wandlung im Bewusstsein der schreibenden/siegelnden und lesenden Figuren statt, wie ein exemplarischer Überblick zur epistolaren Kommunikation in Vor dem Sturm, Graf Petöfy, Cécile, Unwiederbringlich, Effi Briest, Der Stechlin und Mathilde Möhring offenbart.
Heft
(2020) 109
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