Heft 
(2020) 109
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Obsolete Gesten Siegel und Brief  Ritter 67 Versiegelung als Schwellenbewusstsein In Fontanes Roman Vor dem Sturm(1878) ist die Welt der Politik im Winter 1812/13 in Aufruhr, doch die Welt des Siegelns ist noch in Ordnung. Guts­herr Bernd von Vitzewitz erhält im Zuge seiner Planung zur Konspiration gegen die Franzosen Briefe in großem Format mit großem Siegel:»Jeetze übergab einen Brief, großes Format mit großem Siegel. Berndt erkannte Turganys Handschrift«. 12 Und sein Sohn Lewin findet in der seiner Woh­nung einen Brief des Freundes Tubal:»Was ihm am meisten auffiel, war das unverhältnißmäßig große Siegel. Es war ersichtlich, daß der Inhalt gegen unbefugte Neugier hatte sichergestellt werden sollen«. 13 Gemeint sind je­doch nicht die Franzosen, sondern Lewins geschwätzige Vermieterin. Auch in Unwiederbringlich(1892) ist Siegeln an sich wenig auffällig. Ge­siegelte Briefe verweisen als äußere Authentifizierung auf die Absender: »Asta aber eilte zurück, auf die Terrasse zu, und als sie halb herauf war, hielt sie schon einen Brief in die Höhe, an dessen Format und großem Siegel Graf und Gräfin unschwer erkannten, daß es ein dienstliches Schreiben sei« 14 . Im Roman Der Stechlin(1898) kippt die Wahrnehmung. Das Versiegeln eines Briefs ist nicht nur obsolet geworden, auch Briefformat und Größen­verhältnis des Siegels und Siegelns sind am Ende des Jahrhunderts nun auf­fallend unzeitgemäß, wie Woldemar beim Empfang eines Briefs seiner kon­servativen Tante Adelheid konstatiert: Der andre Morgen rief Woldemar zeitig zum Dienst. Als er um neun Uhr auf sein Zimmer zurückkehrte, fand er auf dem Frühstückstisch Zeitun­gen und Briefe. Darunter war einer mit einem ziemlich großen Siegel, der Lack schlecht und der Brief überhaupt von sehr unmodischer Er­scheinung, ein bloß zusammengelegter Quartbogen. Woldemar, nach Poststempel und Handschrift sehr wohl wissend, woher und von wem der Brief kam, schob ihn, während Fritz den Tee brachte, beiseite, und erst als er eine Tasse genommen und länger als nötig dabei verweilt hat­te, griff er wieder nach dem Brief und drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger.»Ich hätte mir, nach dem gestrigen Abend, heute früh was andres gewünscht als gerade diesen Brief«. 15 Wie Tante Adelheid, so ist auch die Kulturtechnik des Siegelns ein wohlkon­serviertes Stück Mittelalter. Mehr noch, die Dopplung von Briefsiegel und Poststempel bildet einen Konflikt der Übertragung: Im gespeicherten Wis­sen von Siegelabdruck und Poststempel treffen zwei Zeitalter aufeinander und kulminieren in der Materialität des Briefes. Briefbögen wurden in Deutschland bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zum Schutze des Briefge­heimnisses und auch ganz banal zum Verschließen versiegelt. 16 1849 wurde dies durch die Einführung von genormten Briefumschlägen aufgehoben, das Postwesen war zur Staatsangelegenheit geworden, und Briefe wurden mit der weiterschreitenden Verbreitung öffentlicher Medien, Telegramme,