Heft 
(2020) 109
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116 Fontane Blätter 109 Freie Formen Der Stechlin, ein politischer Zeitroman Michael Stolleis I. Fontanes letzter Roman, Der Stechlin, im Vorabdruck 1898 und als Buch 1899 erschienen, ist viel analysiert und seit langem bewundert worden, spä­testens seit Thomas Mann ihn rühmte. 1 Wenn ein heutiger Bewunderer, kein Literaturwissenschaftler sondern Rechtshistoriker, eingeladen wird, an Fontanes 200. Geburtstag zu sprechen, ist dies eine Ehre, aber auch eine Last. Denn wirklich Überraschendes lässt sich zum Stechlin kaum mehr bei­bringen. Viele Kenner des Werks haben sich zum späten, auch speziell zum politischen Fontane geäußert und haben die fein facettierten Anspielungen auf die Zeit, den Adel, die Regierung und die Parteien registriert. Tatsäch­lich ist Der Stechlin, wie Fontane selbst sagte,»ein politischer Zeitroman«, geschrieben mit einem fast überhellen, wachen Blick quer durch alle sozia­len Schichten. Dem Rechtshistoriker liegt das 17. Kapitel, die»Wahl in Rheinsberg­Wutz«, besonders nahe. Aber dieses Kapitel kann nicht isoliert werden. Es ist durch viele Fäden mit der gesamten preußisch-reichsdeutschen Welt, mit der preußischen Politik seit den Freiheitskriegen und seit 1848, mit Nord­deutschem Bund und Reichsgründung verknüpft. Eda Sagarra sagt mit Recht: Für Historiker der wilhelminischen Epoche bietet der Roman eine gera­dezu faszinierende Lektüre: Es läßt sich aus den so kunstvoll anspie­lungsreichen Gesprächen sowohl in synchroner wie in diachroner Hin­sicht ein ganzes politisches und gesellschaftliches System erschließen: Krone, Land- und Dienstadel und Militär, Reichstag, politische Parteien, insbesondere die Sozialdemokraten, Wahlsystem sowie Formen des so­zialen Konsensus. 2 Der Leser tritt ein in die sog. wilhelminische Welt des noch jungen Kaisers, mit Berlin auf der einen, mit dem Großen Stechlinsee im Landkreis Ostprig­nitz-Ruppin in Brandenburg auf der anderen Seite. Zwar wird auch auf Aufenthalte der Figuren in England, in der Schweiz angespielt, ja Super­