116 Fontane Blätter 109 Freie Formen Der Stechlin, ein politischer Zeitroman Michael Stolleis I. Fontanes letzter Roman, Der Stechlin, im Vorabdruck 1898 und als Buch 1899 erschienen, ist viel analysiert und seit langem bewundert worden, spätestens seit Thomas Mann ihn rühmte. 1 Wenn ein heutiger Bewunderer, kein Literaturwissenschaftler sondern Rechtshistoriker, eingeladen wird, an Fontanes 200. Geburtstag zu sprechen, ist dies eine Ehre, aber auch eine Last. Denn wirklich Überraschendes lässt sich zum Stechlin kaum mehr beibringen. Viele Kenner des Werks haben sich zum späten, auch speziell zum politischen Fontane geäußert und haben die fein facettierten Anspielungen auf die Zeit, den Adel, die Regierung und die Parteien registriert. Tatsächlich ist Der Stechlin, wie Fontane selbst sagte,»ein politischer Zeitroman«, geschrieben mit einem fast überhellen, wachen Blick quer durch alle sozialen Schichten. Dem Rechtshistoriker liegt das 17. Kapitel, die»Wahl in RheinsbergWutz«, besonders nahe. Aber dieses Kapitel kann nicht isoliert werden. Es ist durch viele Fäden mit der gesamten preußisch-reichsdeutschen Welt, mit der preußischen Politik seit den Freiheitskriegen und seit 1848, mit Norddeutschem Bund und Reichsgründung verknüpft. Eda Sagarra sagt mit Recht: Für Historiker der wilhelminischen Epoche bietet der Roman eine geradezu faszinierende Lektüre: Es läßt sich aus den so kunstvoll anspielungsreichen Gesprächen sowohl in synchroner wie in diachroner Hinsicht ein ganzes politisches und gesellschaftliches System erschließen: Krone, Land- und Dienstadel und Militär, Reichstag, politische Parteien, insbesondere die Sozialdemokraten, Wahlsystem sowie Formen des sozialen Konsensus. 2 Der Leser tritt ein in die sog. wilhelminische Welt des noch jungen Kaisers, mit Berlin auf der einen, mit dem Großen Stechlinsee im Landkreis Ostprignitz-Ruppin in Brandenburg auf der anderen Seite. Zwar wird auch auf Aufenthalte der Figuren in England, in der Schweiz angespielt, ja Super
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(2020) 109
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