Heft 
(2020) 109
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126 Fontane Blätter 109 Freie Formen Bollwerk der alten Ordnung seinen Rang verlor. Was im Roman als nostalgi­scher Abgesang erschien, versperrte in der Realität den Weg in den moder­nen Verfassungsstaat. 26 Die Sozialdemokraten, wie sie seit ihrem Zusammenschluss der beiden Flügel 1875 hießen, begannen 1871 mit 3,2% der Wählerstimmen, steigerten sich dann langsam auf 10,1%(1887), 19%(1890), 23,4%(1893) und 1898, als Der Stechlin erschien, auf 27.2%. Schon ab 1890 war die Sozialdemokratie die stärkste Partei im Reichstag. Sie stieg 1912 auf 34,8% an, gelangte aber nicht zur Regierung; denn immer noch wurde der Reichskanzler vom Kaiser ernannt(Art.15 RV 1871), war also konservativ. Da Zählwert und Erfolgs­wert der für sie abgegebenen Stimmen zum Nachteil der Sozialdemokratie auseinanderfielen, war sie auch strukturell benachteiligt. 1898 errang sie mit 27,2% der Stimmen nur 14,1% der Mandate, während die Konservativen mit 11% der Stimmen ebenfalls 14,1% der Mandate erhielten. 27 Fontane sah dies alles höchst aufmerksam, teils mit Zustimmung, teils mit einer Art melancholischer Verbitterung, wenn er seinen altmärkischen Adel betrachtete; denn die führenden Schichten in Adel und Militär, aber auch die im Dorfkrug versammelten Honoratioren begreifen nichts oder schließen jedenfalls die Augen davor, dass die alte, wohlgeordnet scheinen­de Welt dabei ist unterzugehen. Nach der verlorenen Wahl gehen sie essen und trinken, halten die üblichen Reden und erzählen sich zweifelhafte Anek­doten. Nur Dubslav Stechlin sieht klar voraus, er würde nicht gewählt wer­den, und er spürt, dass es so historisch richtig ist. Er ist froh, dass die Last von ihm genommen wurde, ja er ist»ausgezeichneter« Laune über den »Kladderadatsch« der Wahl(19. Kap.). Auf die Seite der Sozialdemokratie können Stechlin, aber auch Fontane, zwar nicht treten, da würden zu viele Herzfäden reißen. Beide(wenn wir Autor und Figur einmal zusammenneh­men dürfen) sind emotional gebunden an die preußische Geschichte und an die Landschaft. Sie sind zudem nicht blind dafür, dass die SPD im Wahl­kampf Dinge verspricht, die sie nicht halten kann, wissen auch, dass die Klassenstruktur noch stabil ist auch die größte Vertrautheit der Herrschaft mit den Dienern kann sie nicht beseitigen. Stechlins menschliche Güte, sei es gegenüber Engelke, sei es gegenüber dem betrunkenen Kossäten Tuxen am Wegesrand(20. Kap.) ist zugleich christlich-sozial und anständig. Aber Stechlin, Pastor Lorenzen, Melusine(und Fontane selbst) sehen das Gelobte Land einer neuen gerechteren Gesellschaftsordnung von ferne, ohne es wirklich betreten zu können. Verstanden haben sie, dass die neue Zeit be­reits angebrochen ist, eine Zeit der Geschwindigkeiten, der technischen Er­findungen, des Kommerzes, des rücksichtslosen Individualismus, der Auf­rüstung, der Phrasen der herrschenden Kreise und ihrer Blindheit gegenüber der heraufziehenden Katastrophe.