Der Stechlin , ein politischer Zeitroman Stolleis 125 Arbeiter denken, sprechen, schreiben, hat das Denken, Sprechen und Schreiben der altregierenden Klassen tatsächlich überholt. Alles ist viel echter, wahrer, lebensvoller. Sie, die Arbeiter, packen alles neu an, haben nicht bloß neue Ziele, sondern auch neue Wege. 19 Für Fontane, der den märkischen Adel liebevoll beschrieb, obwohl oder gerade weil er in ihm eine versinkende Lebensform sah, war der vierte Stand eine Hoffnung für die Zukunft, aber seinen ambivalenten Gefühlen entsprach wohl am meisten Melusines ausgleichendes Wort:»Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben«. 20 II. Begeben wir uns zum Ende also zur Nachwahl in den Reichstag im Wahlkreis Rheinsberg-Wutz(16.–20. Kapitel). 21 Der seit langem den Wahlkreis siegreich behauptende Herr von Kortschädel war verstorben, gemäß§ 66 Geschäftsordnung des Reichstags vom 10. Februar 1876 war eine Nachwahl für die Grafschaft Ruppin durchzuführen. Die Einzelheiten waren im Wahlreglement festgelegt. 22 Eine Woche vor dem Wahltermin fand eine durch Gespräche vorbereitete, aber doch kaum diskutierte Nominierung des konservativen Kandidaten Dubslav von Stechlin im Dorfkrug statt. Der Kandidat stellte sich dabei nicht vor, eine Rede schien überflüssig, weil sich alle einig waren: Der bisherige Zustand sollte erhalten bleiben! So etwa lautete die kurze Empfehlung des Versammlungsleiters Oberförster Katzler. Das Wahlrecht zum Reichstag gründete auf dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Männerwahlrecht zum Norddeutschen Bund von 1867 23 , das seinerseits auf dem Wahlrecht zur Paulskirche beruhte. 24 Gewählt wurde also nach dem Prinzip der absoluten Mehrheitswahl in Einmannwahlkreisen; der Gewählte musste mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen. Wahlberechtigt waren Männer vom vollendeten 25. Jahr an. Dies war Bismarcks Entgegenkommen gegenüber den Nationalliberalen, auf die er sich damals stützte, und es war ein Ärgernis in den Augen der preußischen Konservativen, die am Dreiklassenwahlrecht festhielten. Aber auch Süddeutsche wie Robert von Mohl hielten das direkte allgemeine Wahlrecht, wie er sagte,»für falsch im Grundgedanken, sowie gefährlich in seinen Folgen, und dessen Einräumung ich für eine unverzeihliche politische Sünde Bismarcks erachtete«. 25 Die Parallelität von allgemeinem Wahlrecht im Reich und Dreiklassenwahlrecht im größten Bundesstaat Preußen blieb das ungelöste verfassungsrechtliche Grundproblem. Die Ämter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten blieben zwar – mit Ausnahme der Jahre 1892 bis 1894 – in einer Hand, aber auf die Dauer wurde das Zwitterhafte dieser Konstruktion immer deutlicher. Im Reich wuchs die Bedeutung des Reichstags, auch wenn die volle Parlamentarisierung nicht gelang, während das preußische Herrenhaus als
Heft
(2020) 109
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