Heft 
(2020) 109
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Der Stechlin , ein politischer Zeitroman  Stolleis 125 Arbeiter denken, sprechen, schreiben, hat das Denken, Sprechen und Schreiben der altregierenden Klassen tatsächlich überholt. Alles ist viel echter, wahrer, lebensvoller. Sie, die Arbeiter, packen alles neu an, haben nicht bloß neue Ziele, sondern auch neue Wege. 19 Für Fontane, der den märkischen Adel liebevoll beschrieb, obwohl oder ge­rade weil er in ihm eine versinkende Lebensform sah, war der vierte Stand eine Hoffnung für die Zukunft, aber seinen ambivalenten Gefühlen ent­sprach wohl am meisten Melusines ausgleichendes Wort:»Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben«. 20 II. Begeben wir uns zum Ende also zur Nachwahl in den Reichstag im Wahl­kreis Rheinsberg-Wutz(16.–20. Kapitel). 21 Der seit langem den Wahlkreis siegreich behauptende Herr von Kortschädel war verstorben, gemäß§ 66 Geschäftsordnung des Reichstags vom 10. Februar 1876 war eine Nachwahl für die Grafschaft Ruppin durchzuführen. Die Einzelheiten waren im Wahl­reglement festgelegt. 22 Eine Woche vor dem Wahltermin fand eine durch Gespräche vorbereitete, aber doch kaum diskutierte Nominierung des kon­servativen Kandidaten Dubslav von Stechlin im Dorfkrug statt. Der Kandi­dat stellte sich dabei nicht vor, eine Rede schien überflüssig, weil sich alle einig waren: Der bisherige Zustand sollte erhalten bleiben! So etwa lautete die kurze Empfehlung des Versammlungsleiters Oberförster Katzler. Das Wahlrecht zum Reichstag gründete auf dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Männerwahlrecht zum Norddeutschen Bund von 1867 23 , das seinerseits auf dem Wahlrecht zur Paulskirche beruhte. 24 Ge­wählt wurde also nach dem Prinzip der absoluten Mehrheitswahl in Ein­mannwahlkreisen; der Gewählte musste mehr als die Hälfte der abgege­benen Stimmen auf sich vereinen. Wahlberechtigt waren Männer vom voll­endeten 25. Jahr an. Dies war Bismarcks Entgegenkommen gegenüber den Nationalliberalen, auf die er sich damals stützte, und es war ein Ärger­nis in den Augen der preußischen Konservativen, die am Dreiklassenwahl­recht festhielten. Aber auch Süddeutsche wie Robert von Mohl hielten das direkte allgemeine Wahlrecht, wie er sagte,»für falsch im Grundgedanken, sowie gefährlich in seinen Folgen, und dessen Einräumung ich für eine un­verzeihliche politische Sünde Bismarcks erachtete«. 25 Die Parallelität von allgemeinem Wahlrecht im Reich und Dreiklassenwahlrecht im größten Bundesstaat Preußen blieb das ungelöste verfassungsrechtliche Grundpro­blem. Die Ämter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsiden­ten blieben zwar mit Ausnahme der Jahre 1892 bis 1894 in einer Hand, aber auf die Dauer wurde das Zwitterhafte dieser Konstruktion immer deut­licher. Im Reich wuchs die Bedeutung des Reichstags, auch wenn die volle Parlamentarisierung nicht gelang, während das preußische Herrenhaus als