Die Gartenlaube im Krieg Stockinger 55 der ›nationalen Familie‹ gemäß – auch die Kriegsfolgen recht präzise offenlegte und den Schatten- oder doch Kehrseiten der Geschehnisse relativ ausführlichen Raum gab. So lenkte Gartenlauben- Korrespondent Friedrich Hoffmann in einer Miniserie mit dem Titel Ein fahrendes Lazareth die Aufmerksamkeit auf den tatsächlichen Preis des Sieges über Frankreich. Die Gleichzeitigkeit unvereinbarer Emotionen und Reaktionen wurde hier sowohl transportiert und abgebildet als auch erzeugt und verstärkt. Der technisch beschleunigte Informationsfluss machte es möglich, dass Siegesnachrichten, ganz anders als 1813, als dies»Wochen« gedauert hatte, »noch am Tage der Schlacht« in Deutschland eintrafen und die Nation spontan wie unmittelbar in einen ›Rausch‹ versetzten:»[D]ie Siegesfahnen wurden ausgesteckt, die Straßen wimmelten von frohen Menschen und die Vergnügungslocale faßten die glücklichen Zecher kaum«. Das ist der eine Pol. »Ganz anders« aber, so Hoffmann weiter,»sah es am andern Ende des Bildes aus, wohin von dem strahlenden Glanze kein Schimmer mehr fiel, auf den fernen Schlachtfeldern«. Aus Orléans berichtete er von elenden Zuständen auf Bahnhöfen und in Lazaretten, von»zwei- bis dreitausend Verwundete[n] auf offnen Eisenbahnwagen, an denen Wände und Fußböden zerbrochen und durchlöchert waren«. Dagegen appellierte er,»Sanitäts- oder Lazarethzüge« zu entsenden, um eine sichere Heimkehr bei bestmöglicher Versorgung zu gewährleisten. Denn»wahrlich, man schaudert dann vor dem Gedanken zurück, Siege, die durch solche Opfer errungen worden, durch Fahnen und Feste zu feiern« – und wenn man es doch tat, so sollte man doch das Spenden nicht vergessen. In gewohnt zuverlässiger Manier bot sich die Gartenlauben- Redaktion in Leipzig als Sammelstelle an. 109 Deutlich wird dabei, dass dem Familienblatt weniger daran gelegen war, die Feierstimmung zu trüben, als sich vielmehr erneut und weiterhin als schwarzes Brett der Nation zu bewähren. Grundsätzlich aber änderte sich 1871 ab Heft 15 der Modus der Darstellung: Aus(Kriegs-)Berichterstattung wird Erinnerung an den Krieg. Die Gartenlaube ist wieder ganz ›bei sich‹ – als Unterhaltungsorgan, Informationsportal und Archiv der deutschen Nation. Die Reihe Erinnerungen aus dem heiligen Kriege 110 historisierte das soeben Erlebte und machte das teilweise im Familienblatt bereits Berichtete aus unterschiedlichen Perspektiven zum Gegenstand des kollektiven Erinnerungsinteresses. Ansonsten war man, so scheint es, vor allem an der Wiederherstellung und Stabilisierung des Status quo vor dem Krieg interessiert. Das lässt sich nicht zuletzt an einigen Langzeitserien ablesen, die wegen des Krieges unterbrochen worden waren und jetzt nahtlos fortgesetzt wurden. 111 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das explizite Selbstverständnis des Familienblatts mit Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 nicht angetastet wurde: Man verstand sich weiterhin als Organ und Katalysator der sich einigenden deutschen Nation. Der Einigungsprozess
Heft
(2021) 112
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