Heft 
(2022) 113
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16 Fontane Blätter 113 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes einer als schlecht erfahrenen Realität konzipierten. Fontane hingegen sei sich der poetischen Differenz seiner Romanfiguren bei aller realistischen Darstellung jederzeit bewusst(»M. Fontaine aime ses personnages, mais il noublie jamais quil les invente.«, S. XVIII). Indem seine Romane die Le­bens- und Schreiberfahrung des über 60-Jährigen mit dem Enthusiasmus und der Frische des späten Debütanten vereinten, würden sie ihre ganz ei­gene verborgene Poesie(»une poésie secrète«, S. XX) entwickeln, die sie über ihre französischen Vorgänger erhebe. Während der französische Na­turalismus bereits der Vergangenheit angehöre, wiesen Fontanes Romane damit in die Zukunft. Wyzewas Einführung in Fontanes Werk endet mit dem Fanfarenstoß, dass Fontane neben Friedrich Nietzsche der bedeu­tendste der gegenwärtigen deutschen Schriftsteller sei, ja sogar, dass es sich bei diesen beiden um die einzigen bemerkenswerten deutschen Schrift­steller der Gegenwart handele(»cest vraiment les deux écrivains les plus remarquables, les deux seuls écrivains remarquables de lAllmagne con­temporaine«, S. XXII). Fontane und Nietzsche als Dioskuren des späten 19. Jahrhunderts schwerlich wird man eine solche Zusammenstellung in dieser pointierten Zuspitzung in anderen zeitgenössischen oder auch späte­ren Hitlisten finden(es sei denn, Otto Brahm , Lou Andreas Salomé , Fritz Mauthner und Stanislaw Przybyszewski hätten gemeinsam einen Fontane­Essay verfasst). Dass beide Fontane und Nietzsche zu den Kritikern der deutschen kulturellen Überlegenheitsansprüche im Zuge der Reichsgrün­dung gehörten, mag bei Wyzewa darüber hinaus eine Rolle spielen. Sicherlich ist Wyzewas Aufwertung Fontanes gegenüber dem fran­­ zö­sischen Naturalismus von seinen eigenen ästhetischen Wertestandards geprägt, deren Maßstäbe Tolstois Anti-Intellektualismus sowie dessen Idealisie­rung der Simplizität einerseits und eine symbolistisch geschulte Realismuskritik andererseits bilden. Auch wird man seine Abhandlung so­wohl hinsichtlich der biographischen und werkgeschichtlichen Faktentreue als auch bezüglich seiner Kenntnisse des Literaturbetriebs des Kaiserreichs (so etwa in der Überschätzung der Bedeutung des von Fontane und der mo­dernen Literatengeneration durchaus widersprüchlich wahrgenommenen Schillerpreises 12 ) großzügig lesen und»fünfe gerade« sein lassen. Hier bleibt sie vor allem historisches Zeugnis einer frühen internationalen Wahrneh­mung des Autors. Andererseits gewinnt sein Essay gerade hieraus seinen originellen Charme, der ihn neben Konrad Albertis Dichterporträt von 1890 oder Richard Moritz Meyers literaturgeschichtlicher Würdigung Fontanes von 1900 zu den auch heute noch mit Gewinn lesbaren frühen Rezeptions­zeugnissen werden lässt. 13 Und wenn die Forschung im 21. Jahrhundert Fon­tanes spezifischen poetischen Realismus zunehmend nicht mehr als bloßes Vorläufer- und Gegenprogramm zu den literarischen Entwicklungen des Naturalismus, der Décadence und der ästhetischen Moderne versteht, fin­det sie in Wyzewas Essay einen frühen Vorläufer. 14