22 Fontane Blätter 113 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes Überdruss und ihrer Reue zugrunde zu gehen, gelingt es Fontanes Heldin, die Sorgen und Probleme, an denen sie in allererster Linie selbst schuld ist, hinter sich zu lassen. Man muss die Themen und den Stil der deutschen Romanschriftsteller kennen(und das ist eine Kenntnis, die ich niemandem empfehlen kann), um die Kühnheit dieses Fontane-Romans in vollem Umfang wertschätzen zu können. Der ein paar Jahre später erschienene Graf Petöfy wirkt dagegen wie ein Widerruf. Hier erzählt Fontane von der Ehe einer jungen Schauspielerin mit einem alten Grafen und wie sie sich in den Neffen ihres Mannes verliebt. Das ist alles in allem eine romantische Geschichte, bei der es letztlich nur darum geht, die Situationen und Figuren so natürlich und realistisch wie möglich zu beschreiben. Dennoch wurde schnell klar, dass Fontane sich vorgenommen hatte, den naturalistischen Roman in Deutschland einzuführen. Schlag auf Schlag erschienen zwei Romane: Irrungen, Wirrungen(1888) und Stine (1889), die sich der exakten Darstellung einer Welt widmeten, die kein Romanschriftsteller in Deutschland bisher gewagt hatte, ernsthaft zu schildern. In Stine wohnt die Witwe Pittelkow mit ihrer kleinen Tochter Olga in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung in der endlos langen Berliner Invalidenstraße. Allerdings weiß man von dieser Witwe nicht, ob sie überhaupt jemals verheiratet gewesen war. Was aber im Viertel jedem bekannt ist und von allen akzeptiert wird, ist, dass sie die Geliebte eines alten Grafen ist, der zwei- bis dreimal in der Woche abends zu Besuch kommt. Er ist ein alter gutmütiger Genussmensch und auch ziemlich großzügig, wie die relativ luxuriöse Möblierung der Pittelkow’schen Wohnung zeigt. Die Handlung setzt damit ein, dass Pauline Pittelkow von dem Grafen ein Schreiben erhält, in dem er ankündigt, dass er noch am selben Abend mit seinem Neffen und einem seiner Freunde zum Essen kommen wird. Sie soll dafür sorgen, dass bei ihrer Ankunft alles bereit ist. Die formidable Witwe stürzt sich sofort in die Vorbereitungen und schickt ihre Tochter zu Fräulein Wanda, einer kleinen Schauspielerin, die ihr bei solchen Anlässen oft Gesellschaft leistet. Sie selbst geht zu ihrer Schwester Stine – eine junge, schmächtige und blasse Schneiderin, die ein möbliertes Zimmer im oberen Stockwerk bewohnt. Von Pauline bedrängt, aber auch von der Hoffnung gelockt, diesen Neffen kennenzulernen, den ihre Schwester so anpreist, sagt die junge Frau zu. Um acht Uhr kommen die drei Herren. Es wird gegessen, getrunken, gesungen; dann zünden sich die Männer wie gewohnt ihre Zigarren an und spielen Karten, während die Damen ihnen dabei zugucken und über ihre Scherze lachen. Nur Stine bleibt müde und schüchtern außen vor und wartet ungeduldig darauf, wieder in ihr Zimmer hinaufsteigen zu können.
Heft
(2022) 113
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