Heft 
(2022) 113
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Fontane auf Französisch  D'Aprile, Lerenard 23 Zwei Tage vergehen. Stine arbeitet gerade in ihrem Zimmer, als der Neffe des alten Grafen eintritt. Er ist ein blasser, vorzeitig gealterter junger Mann. Wegen einer Verletzung, die er sich im deutsch -französischen Krieg zuge­zogen hat, musste er aus dem Militärdienst ausscheiden. Er langweilt sich zu schwach, um einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen, zu müde, um sich für das Leben zu interessieren. Doch die Zurückhaltung der kränkli­chen jungen Frau an jenem Abend hat ihm so gefallen, dass er sie näher kennenlernen möchte. Die Treffen mit Stine sind bald sein einziger Zeitvertreib. Eines Tages, nach langer Überlegung und langem Zögern, beschließt er sie zu heiraten. Aber sein Onkel, der alte Graf, den er um Rat fragt, hält das Heiratsprojekt für eine Torheit. Er rennt zur Witwe Pittelkow, wirft ihr mit harten Worten vor, dass sie den Ausgang dieser Affäre zu verantworten hat, weil sie taten­los zugeschaut hat, und fordert sie auf, alles in Bewegung zu setzen, um diese Heirat zu verhindern. Doch die Witwe muss ihre Schwester gar nicht überzeugen. Stine weiß selbst, dass man eine wie sie nicht heiratet. Sie lehnt den Heiratsantrag des jungen Grafen ab, der sich aus Verzweiflung das Le­ben nimmt. *** Das ist das Thema von Stine. Noch schlichter sogar ist das Thema des ande­ren Romans Irrungen, Wirrungen. Die wörtliche französische Übersetzung Erreurs et Embarras klingt etwas platt, doch der deutsche Titel ist durchaus feinsinnig. Hier geht es um die kurze Liebesgeschichte zwischen einem jungen Of­fizier Baron von Rienäcker und einer Wäscherin aus der Berliner Vor­stadt, Madeleine Nimpsch. Madeleine hatte schon einen Liebhaber gehabt, als sie den schönen Offizier kennenlernt. 22 Nachdem er sie das erste Mal nach Hause begleitet hat, kommt er fast täglich, um ein paar Stunden in ih­rer Gesellschaft zu verbringen. Die kleine Madeleine ist sehr verliebt, aber sie weiß, dass er sie weder heiraten noch dass diese Beziehung von Dauer sein wird. Dennoch gibt sie sich den Freuden dieser Liebe hin, wozu ihre Umgebung sie im Übrigen auch ermutigt: ihre Stiefmutter, die alte Frau Nimpsch, ihr Vermieter, der Gärtner Dörr, und Frau Dörr, eine ehemalige Kokotte, die auf ihre alten Tage den Gärtner mit ihrer großen Statur und ihren Feldwebelattitüden verführt hat. Die Beziehung zwischen Madeleine und dem Baron ist für diese guten Leute eine unerschöpfliche Quelle, um sich vergnügen und aufmuntern zu lassen. Wenn der junge Mann abends nach der Kaserne vorbeikommt, wird er von allen freudig empfangen. Er ist so höflich, so sanft, so zuvorkommend! Für jeden findet er ein gutes Wort. Dann hakt sich Madeleine bei ihm ein und sie spazieren im Mondschein durch die Landschaft. Oft nehmen sie Frau Dörr mit, denn die Plaudereien der offenherzigen Frau lenken davon ab, dass sie sich nichts zu sagen ha-