Fontane auf Französisch D'Aprile, Lerenard 25 bare Sorgfalt in die detaillierte Beschreibung der Gestik, der Worte und der Orte gelegt. Die anzüglichen Bemerkungen des Gärtners Dörr, das Geplauder seiner Frau, die Weisheiten eines Dorfwirts, all diese Dinge, die ein Romanschriftsteller alter Schule als handlungsfremd abtun würde, haben so viel und sogar mehr Gewicht als die Gespräche der beiden Liebenden. Und Gott weiß, über wie viele Themen sich die beiden unterhalten, ohne dass es einen Zusammenhang zur Handlung gibt! Anstatt die Liebe zwischen Madeleine und dem Baron hervorzuheben, gibt sich Fontane jede Mühe, sie unter einem Haufen belangloser Umstände zu verbergen. Hierbei handelt es sich um eine weitere Regel des naturalistischen Genres. Es gibt keine hervorgehobenen Tatsachen im Leben: würde man einige isolieren – unter dem Vorwand, dass nur sie wichtig sind – würde man sie verzerren und die realistische Darstellung zugunsten der Konvention aufgeben. Ein letzter Grundsatz ist wichtig. Er gehört eigentlich nicht direkt zur Definition des naturalistischen Genres, aber man kann heute ruhig zugeben, dass ein großer Teil des Vergnügens, das man mit diesem Genre verbindet, genau damit zu tun hat. Unsere französischen Romanschriftsteller haben sich dabei besondere Verdienste erworben. Diese wesentliche Bedingung zielt darauf ab, dass der Roman eine Art Widerrede darstellen soll: Die Figuren und Umstände müssen bei all ihrer Banalität auf irgendeine Weise die guten Sitten oder wenigstens die gesellschaftlichen Vorurteile angreifen, die man früher glaubte respektieren zu müssen. Ein naturalistischer Roman muss unbedingt etwas Verbotenes ansprechen. Ganz egal wie, ob durch das Thema oder die Details – Hauptsache, es wird gegen die bürgerlichen Konventionen verstoßen. Auch in dieser Hinsicht erfüllen Fontanes Romane das naturalistische Ideal. Madeleine und ihr Geliebter belassen es nicht dabei, ihre Liebe unter dem Mondschein spazieren gehen zu lassen. Auch wenn im Detail nichts gegen die Gewohnheiten der durchschnittlichen Moral verstößt, ist das Thema selbst so unmoralisch wie man es sich nur wünschen kann. Es geht weder um Verführung noch um eine gebrochene Verlobung. Madeleine hat vor ihrer Begegnung mit dem Baron schon einen Liebhaber gehabt, nichts hindert sie daran, später wieder welche zu haben. Sie weiß von Anfang an, dass es keine Hochzeit geben wird. Das wissen auch ihre Mutter und Frau Dörr, und niemand kommt auf die Idee – wie es sich gehören würde – das für etwas Verbrecherisches zu halten. Selbst der Autor nicht. Wenn man so will, ist sein Buch ein Paradoxon gegen die Ehe-Konzeption des Liebesromans selbst. *** Die gleichen Charaktere treten in allen Romanen von Fontane auf: Stine , L´Adultera, Quitt, wie auch Irrungen, Wirrungen erfüllen die Bedingungen des vollkommenen naturalistischen Romans. Ich empfehle sie allen, die wissen wollen, wie man die Regeln des naturalistischen Romans konsequent
Heft
(2022) 113
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