70 Fontane Blätter 113 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte tung eines breiten Publikums abzielenden Boulevardstücken auf der anderen Seite aufrechtzuerhalten, zeigt seine Besprechung einer Aufführung von Wicherts Ein Schritt vom Wege in der Vossischen Zeitung vom 1. November 1872. Das Programm des poetischen Realismus auf engstem Raum rekapitulierend und es zugleich von allem ›bloßen Realismus‹ abhebend heißt es darin über die Darstellerin der weiblichen Hauptrolle und indirekt auch über das Stück: Fräulein Keßler ist in solchen Rollen unbestritten sehr anmuthig; sie giebt das Leben wie es ist, indem sie sich selbst giebt. Die Kunst erheischt freilich noch ein Weniges mehr, nicht Copie, sondern Spiegelbild, nicht Abschreibung, sondern Vertiefung oder Verschönung des Daseins. 26 »Spiegelbild«,»Vertiefung« und»Verschönung« stehen hier an derjenigen Stelle, an der in Fontanes Aufsatz Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 die Formulierung von der»Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst« zu finden ist. 27 Die deutlich herausgestellte Opposition von ›bloßer Realität‹ versus ›verschönernder Kunst‹ wird am Ende der Theaterkritik Fontanes am Beispiel einer weiteren Schauspielerin noch einmal aufgenommen, diesmal jedoch um die Kategorie der ›Naivität‹ zu einer Trias von ›bloßem Realismus‹, ›Naivität/Idealität‹ und ›wirklicher Kunst‹ erweitert: Fräulein Schratt(Bertha) führte uns aufs Neue den Beweis, mit wie wenig Kunst man das Richtige treffen, oder, wenn dies zu viel gesagt ist, wenigstens Herz und Sinne angenehm berühren kann. Irgend ein Innerliches, das man als Naivität oder Idealität bezeichnen mag, befangene Unbefangenheit, scheue Keckheit, sie üben einen Reiz, der uns höher steht als der bloße Realismus und unter Umständen selbst als ein mühevoll erzieltes Gebilde wirklicher Kunst. 28 Die Aufführung des Lustspiels bietet anscheinend einen ästhetischen Reiz, der zwischen ›bloß naivem Realismus‹ und ›wirklicher Kunst‹(Fontanes eigenem Schreiben) angesiedelt ist. Wie aber lässt sich dieser Reiz ohne Schaden für die ›wirkliche Kunst‹ in das eigene Werk integrieren? Es bedarf dazu einer Rahmung, die es erlaubt, Boulevardstücke wie das von Ernst Wichert gleichsam zu nutzen, sie mit Blick auf das eigene Schreiben aber zugleich auf Distanz zu halten. Das wiederum kann dann gelingen, wenn die in die Romane Fontanes integrierten Elemente aus Boulevardstücken als Proben auf das letztlich dominante Konzept des poetischen Realismus einschließlich seiner Normen und Werte hin angelegt sind. 29 Genau das scheint Fontane im Kleinen in vielen seiner Theaterkritiken (und insbesondere solchen von Boulevardstücken) zu tun, was allein schon die beiden angeführten Zitate belegen. Auf andere Weise geschieht dies bei Fontane aber auch durch das Thematisieren, Zitieren und Beschreiben von Boulevardstücken und ihren Aufführungen innerhalb seiner Romane. Die in diese gleichsam importierten Elemente aus Boulevardstücken – hier mit
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(2022) 113
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