Heft 
(2022) 113
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Fontane und Gabriele Tergit  Sill 123 3. Fazit In seinem instruktiven Beitrag Doppeltes Erbe weist Mike Rottmann hin auf die durchweg positive Rezeption, die Fontanes Erzählwerke bei jüdi­schen Leserinnen und Lesern vor 1933 und nach 1945 erfahren haben: Auch, aber nicht allein aufgrund ihrer Bildung bestand für Intellektuel­le eine Option darin, zur Vergegenwärtigung historischer Probleme mit langfristiger gesellschaftlicher Relevanz auf Literatur zurückzugreifen, die sie bereits kannten und von der sie wussten, dass die in Frage ste­henden Probleme dort verhandelt werden, mithin spezifisch erfahrbar waren. 148 Jüdische Intellektuelle bedienten sich, so Rottmann, der literarischen Texte Theodor Fontanes,»um sich in Ergänzung geschichtswissenschaftlicher Expertise die komplexe Vielstimmigkeit innerhalb der deutschen Gesell­schaft zu vergegenwärtigen« 149 . Nun: Um eine»Vergegenwärtigung der Ver­gangenheit in ihrer subjektiven Vielstimmig- und Widersprüchlichkeit« 150 ging es auch Gabriele Tergit . Ebenso wie Wilhelm Speyer 151 gehört auch sie zweifelsfrei hinein in die Reihe jüdischer Intellektueller jener Jahre, auch wenn ihre Fontane-Rezeption nicht geschichtswissenschaftlich, sondern schriftstellerisch motiviert gewesen ist. Gabriele Tergits Chronik dreier jü­discher Familien korrespondiert auf vielfältige Weise mit Fontanes Berliner Romanen und nutzt deren realistisches Potential für eigene Darstellungs­zwecke. Mit dem Jahr 1945 schließlich wurden Fontanes Werke, so Mike Rottmann, endgültig zu»Dokumente[n] einer untergegangenen Welt« 152 . Auf diese Welt in Trümmern schaut wiederum Theodor Fontane am Ende der Effingers»mit weisen Augen« 153 . Ließe sich ein treffenderes Bild finden?