Heft 
(2022) 113
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150 Fontane Blätter 113 Rezensionen Michael Maar : Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur. Hamburg : Rowohlt 2020. 655 S. 34 Das hier anzuzeigende Buch gehört zur eher seltenen Spezies wissenschaft­licher Unterhaltungsliteratur. Leidenschaftlichen Lesern, Literaturhistori­kern und Leuten, die gern über sprachlich-stilistische Finessen nachden­ken, bietet es pures Vergnügen; für die Rezensentin erwies es sich, während sie mit einem grippalen Infekt zu Bett lag, als veritabler Page turner. Einen metaphorischen Missgriff als Titel eines Buches über Stil zu wäh­len, zeugt von einiger Selbstironie. Insofern ist die aus der Figurenrede in Eva Menasses Debütroman Vienna entlehnte»Schlange im Wolfspelz« eine gute Einstimmung auf den Ton und die Haltung, mit denen Michael Maar »das Geheimnis großer Literatur« verhandelt. Den roten Faden des Buches bildet die Frage: Was ist(guter) Stil? Das einleitende Kapitel nähert sich die­ser Frage systematisch, gleichwohl einfalls- und anekdotenreich, und kommt zu dem vorläufigen Schluss, Stil sei mit Takt verwandt, mit einem Gespür für das aptum, und habe mit Rhythmus und Musikalität mindestens so viel zu tun wie mit Regeln und Definitionen. Leo Perutz , erfährt man später mit ei­niger Überraschung,»schrieb eine Seite bis zu vierzig Mal um und zerriss jede, bei der ihm nur eine rhythmische Schwäche auffiel«(S. 325). Der individuelle Stil eines Autors, einer Autorin ist eine Art DNA und wird von seiner oder ihrer Biografie, seinen oder ihren Erfahrungen mit geformt le style est lhomme-même, um es mit Buffon zu sagen. Oft, aber durchaus nicht immer ist der Stil eines Autors deutlich wiedererkennbar; die Probe darauf kann man mit»Literaturquiz I und II« machen, die als Challenge für den Leser ins Buch eingestreut sind. Wie der Versuch der Rezensentin ergab, sind sie durchaus lösbar, warten aber doch mit mancher Überraschung auf. Stil hat mit Präzision des Denkens zu tun. Stil entsteht durch Einfälle, durch die»kleine überraschende Abschweifung vom protokollierten Weg« (S. 24), und vor allem durch Verzicht auf Phrasen. Vom Jargon unterscheidet den Stil die Tatsache, dass er nicht schulbildend wirkt und nicht geprägt ist durch die Übernahme definierter Begriffe und eingeschliffener Wendun­gen. Schlimmer noch als der Jargon ist laut Maar das dem»geschmacksar­men, plastikverpackten Graubrot« verwandte»Graudeutsch«, und hier legt man als wissenschaftlich Schreibende erschrocken die Ohren an:»Es zeichnet sich aus durch viele, langweilige, latinisierende Fremdwörter; kein originelles Verb; wenn Bilder, dann nur die abgegriffensten, Münzen ohne Prägerand. Fast alle akademischen Publikationen zermalmen oder zelebrie­ren dieses Graubrot, dass es eine Art hat. Es sind graue Begriffsbrocken, die sich aufeinandertürmen; Klapperbleche, mit denen man nicht Spatzen, sondern Leserschwärme verscheucht.« Am anderen Ende der stilistischen Skala sieht Maar das»tortenhaft Überschmückte, Überzuckerte, das, was