Heft 
(2022) 113
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162 Fontane Blätter 113 Rezensionen Im Roman wird er meist nicht bei vollem Namen genannt, sondern nur durch die Initialen A. O., und selbst die wagt kaum jemand auszusprechen. Zum A und O, Ein und Alles, Anfang und Ende, zum vergötterten Idol wur­de in jener Zeit das Geld:»Gold, Gold, Gold ist der mächtigste Hebel, die einzige Gottheit, der Jehovah unserer Erde!«(S. 422). Abednegos Irrweg wird in einer auf Spannung angelegten Enthüllungs­geschichte aus der Perspektive des jungen, unverdorbenen Garde-Offiziers Basil Annesley erzählt, der aus einer verarmten Adelsfamilie stammt und sich von den üblichen Kunden des unbarmherzigen Geldverleihers dadurch unterscheidet, dass er nicht aus Leichtsinn und Verschwendung zu seinem Schuldner wird. Er leiht sich Geld von ihm, um dem aus Deutschland emig­rierten verarmten Maler Verelst und dessen Familie zu helfen, dem er per­sönlich verpflichtet und durch die Liebe zu Verelsts Tochter Esther beson­ders verbunden ist. Durch Basils irritierende Begegnungen mit dem mysteriösen Geldverleiher Abednego wird dessen Geschichte sukzessive enthüllt. Dabei erfährt Basil, dass sein eigenes Leben, das Leben seiner Mut­ter und der Familie seiner Geliebten mit diesem Mann, der wie ein Phantom erscheint, auf eine unheimliche, schicksalhafte Weise verknüpft ist. Basil lässt sich nicht von Vorurteilen leiten. Er bleibt aufmerksam und hilfsbereit und begegnet dem gefürchteten und von allen geächteten A. O. unvoreinge­nommen. Während einer lebensgefährlichen Erkrankung übernimmt er spontan die Pflege des vereinsamten, hilflosen Geldverleihers. Diese Krank­heit und die Begegnung mit Basil wird für Abednego zu einer Zäsur, die ihn aufrüttelt und an seine Ursprünge erinnert. Er besinnt sich auf die in ihm verschütteten Werte, die höher stehen als Reichtum und Macht. Am Schluss ist er ein zur Humanität wiederbekehrter Paria wie Ebenezer ­Scrooge. Während Dickens in seinem ebenfalls 1843 erschienenen Weih­nachtslied in Prosa eine Geistererscheinung bemüht, entwickelt Gore in ih­rem realistischen Roman die Rückbesinnung Abednegos aus der Logik der Figur selbst, wenn diese Wandlung auch nicht restlos gelingt und Abedne­gos Konsequenzen aus seinen teuer erkauften Einsichten über das A und O der Gesellschaft nicht ganz überzeugen. Emma Bovary wird durch den Wechsler Lheureux vernichtet. Sie vergif­tet sich mit Arsen, ein echter Apothekertod, Flaubert soll den Geschmack des Gifts beim Schreiben so deutlich im Mund verspürt haben, dass er er­brechen musste. Auch der mit toten Seelen handelnde Tschitschikow und Molières Harpagon sind bekannte literarische Geizhälse und Geschäftema­cher. Großartiger und bedeutender als all die kleinen Halsabschneider, die sich in der Literatur tummeln, ist Gores Abednego. Ihr A. O. ist eine der bedeutenden Wucherergestalten der Weltliteratur, eine Figur, die man ne­ben Shakespeares Shylock und Feuchtwangers Jud Süß stellen muss. Gore nutzt dieses eindrucksvolle Schicksal, um den bornierten Antisemitismus und das heuchlerische Fassaden-Christentum ihrer Zeit zu kritisieren, eine