Heft 
(2022) 114
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18 Fontane Blätter 114 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte »Wie kommst du zu dem Kind?« Unordnung im Stechlin Wilhelm Amann I. In welchem Umfang die Rezeption eines Romans von einem Epitext be­stimmt werden kann, lässt sich am Stechlin beobachten:»Zum Schluß stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich«. 1 Fontanes ostentative Geringschät­zung einer Geschichte und Konzentration auf die»Mache« 2 gilt als Aperçu der Modernität seines letzten Romans. Womöglich zirkulierte die Bemer­kung bereits, als Thomas Mann in seinem Essay von 1910 am Spätwerk ­Fontanes die»Verflüchtigung des Stofflichen« rühmte, so dass»fast nichts als ein artistisches Spiel von Ton und Geist übrigbleibt«. 3 Soweit eine Ge­schichte als ereignishaftes Sujet noch vorhanden ist, scheint sie im Stechlin weitgehend durch die Reflexion einer unübersichtlich gewordenen Wirk­lichkeit überformt, die im Medium des Gesprächs vollzogen wird. Im Zent­rum des»Zeitromans« 4 steht ein Erzählverfahren, das durch die Struktur der Konversation von Rede und Gegenrede mitsamt ihren Standpunkten und Einstellungen eine Vielzahl an Diskursen und Themen aus Alltäglichem, Geschichte und Zeitgeschichte zur Sprache bringt und zu einem dichten Mo­tivnetz verarbeitet. Während der avantgardistisch orientierte Realismus auf eine ästhetische Form für die Ambivalenzen der Moderne abhebt, soll das schmale Handlungsgerüst die Ordnung des Romans absichern. 5 Mit der Eheschließung Woldemars und Armgards und dem Tod Dubslavs scheint sich die Basisopposition von ›Altem und Neuem‹, die der Stechlin für den Epochen- und Erfahrungswandel bereithält, harmonisch aufzulösen. 6 Folgt man dem rezeptionslenkenden, Liebe und Tod assoziierenden Epitext, mün­det der Roman in einer»feierlichen Ablösung der Generationen« 7 . Mit dem gleichsam naturgegebenen Generationenkonzept wird Konti­nuität im Übergang vom Alten zum Neuen durch die Institution der Ehe in Aussicht gestellt. Im Roman sind damit Fragen der Familie und der Ver­wandtschaft verbunden und in diesem Zusammenhang bildet der namens­wie titelgebende See den mythischen Ursprung einer Genealogie für das ›Haus‹ Stechlin, auf die hin die Generationenabfolge verpflichtet zu sein