28 Fontane Blätter 114 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Die»Hexenkünste«(17/413) der alten Buschen werden vor allem von jungen Frauen in Anspruch genommen, die etwas über Empfängnisverhütung und womöglich auch über Abtreibungsmittel erfahren wollen. 35 Mit ihren mittelalterlich anmutenden medizinischen Praktiken hat sie bereits die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich gezogen hat und es ist absehbar, wann das Kind der Großmutter mit der Begründung der Kindswohlgefährdung entzogen wird. Agnes´ Status als ›Niemandskind‹ – so die im 19. Jahrhundert geläufige und nicht zuletzt durch die Erzählung der Droste mit in Umlauf gehaltene Bezeichnung für die Illegitimen – droht sich zu verfestigen. 36 V. Die als Zufall inszenierte Begegnungsszene am See im Zentrum des Romans findet in dem bereits zitierten ›Klappentext‹ Fontanes keine Berücksichtigung:»Am Schluß stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich«. Auf den Stechlin als modernen Roman träfe eher eine weniger generationsgewisse Beschreibung zu, etwa: ›Am Schluss nimmt ein Alter ein Kind auf, er stirbt und zwei Junge heiraten sich‹. Ähnlich einem Vater, der sein illegitimes Kind verschweigt, übergeht der Autor des Epitextes diesen Handlungsstrang des Romans, den sein Erzähler wiederum prominent placiert. Die Camouflage ist umso bemerkenswerter, da aus diesem Strang im Grunde das einzige sujethaltige Ereignis hervorgeht, im Sinne Lotmans verstanden als die»Abweichung von dem Gesetzmäßigen, Normativen einer narrativen Welt, dessen Vollzug die Ordnung dieser Welt aufrechterhält.« 37 Weder die Wahlen zum Reichstag noch Woldemars Heirat und selbst Dubslavs Tod sind in der narrativen Weltordnung keine in dem Maße vergleichbaren Abweichungen wie die Erscheinung des aus dem Wald hervortretenden Kindes, das im Haus Aufnahme findet. Die Initiative zu diesem Übertritt stammt nicht unmittelbar von Dubslav, sondern von der Buschen, über deren»Verschlagenheit«(38/397) man im Haus Bescheid weiß. Indem sie Agnes mit den Heilkräutern zu dem kranken Alten schickt, stößt sie den Wechsel aus einer ungeschützten naturalen Sphäre in den Bereich gesellschaftlicher Ordnung an, der einem Ansinnen auf Anerkennung gleichkommt. Denn der»leis ansteigende Weg«(23/267) des Kindes aus dem Wald zu Dubslav verläuft analog dem Ritual der Kindsaufhebung in patriarchalischen Gesellschaften, mit dem der Vater das Neugeborene über das bloße menschliche Leben hinaushebt und»durch eine zweite, soziale Geburt« 38 legitimiert. Die erste Begegnung hatte bei dem Alten zu einem ambivalenten Bild des Kindes zwischen Überhöhung und Verfemung geführt: Zunächst die Epiphanie einer Heiligen, die ihm da an einem märkischen See eigenartigerweise»mit ein paar Enzianstauden in der Hand« gegenübertritt und aus fremden, höheren Regionen zu stammen scheint, dann die Kindsfrau, die auf das Milieu und die ›Fallgeschichte‹ ihrer Mutter zurückverweist. 39 Die
Heft
(2022) 114
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