Heft 
(2022) 114
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28 Fontane Blätter 114 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Die»Hexenkünste«(17/413) der alten Buschen werden vor allem von jungen Frauen in Anspruch genommen, die etwas über Empfängnisverhütung und womöglich auch über Abtreibungsmittel erfahren wollen. 35 Mit ihren mit­telalterlich anmutenden medizinischen Praktiken hat sie bereits die Auf­merksamkeit der Behörden auf sich gezogen hat und es ist absehbar, wann das Kind der Großmutter mit der Begründung der Kindswohlgefährdung entzogen wird. Agnes´ Status als ›Niemandskind‹ so die im 19. Jahrhun­dert geläufige und nicht zuletzt durch die Erzählung der Droste mit in Um­lauf gehaltene Bezeichnung für die Illegitimen droht sich zu verfestigen. 36 V. Die als Zufall inszenierte Begegnungsszene am See im Zentrum des Ro­mans findet in dem bereits zitierten ›Klappentext‹ Fontanes keine Berück­sichtigung:»Am Schluß stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich«. Auf den Stechlin als modernen Roman träfe eher eine weniger generationsge­wisse Beschreibung zu, etwa: ›Am Schluss nimmt ein Alter ein Kind auf, er stirbt und zwei Junge heiraten sich‹. Ähnlich einem Vater, der sein illegiti­mes Kind verschweigt, übergeht der Autor des Epitextes diesen Hand­lungsstrang des Romans, den sein Erzähler wiederum prominent placiert. Die Camouflage ist umso bemerkenswerter, da aus diesem Strang im Grun­de das einzige sujethaltige Ereignis hervorgeht, im Sinne Lotmans verstan­den als die»Abweichung von dem Gesetzmäßigen, Normativen einer narra­tiven Welt, dessen Vollzug die Ordnung dieser Welt aufrechterhält.« 37 Weder die Wahlen zum Reichstag noch Woldemars Heirat und selbst Dubs­lavs Tod sind in der narrativen Weltordnung keine in dem Maße vergleich­baren Abweichungen wie die Erscheinung des aus dem Wald hervortreten­den Kindes, das im Haus Aufnahme findet. Die Initiative zu diesem Übertritt stammt nicht unmittelbar von Dubs­lav, sondern von der Buschen, über deren»Verschlagenheit«(38/397) man im Haus Bescheid weiß. Indem sie Agnes mit den Heilkräutern zu dem kran­ken Alten schickt, stößt sie den Wechsel aus einer ungeschützten naturalen Sphäre in den Bereich gesellschaftlicher Ordnung an, der einem Ansinnen auf Anerkennung gleichkommt. Denn der»leis ansteigende Weg«(23/267) des Kindes aus dem Wald zu Dubslav verläuft analog dem Ritual der Kindsaufhebung in patriarchalischen Gesellschaften, mit dem der Vater das Neugeborene über das bloße menschliche Leben hinaushebt und»durch eine zweite, soziale Geburt« 38 legitimiert. Die erste Begegnung hatte bei dem Alten zu einem ambivalenten Bild des Kindes zwischen Überhöhung und Verfemung geführt: Zunächst die Epiphanie einer Heiligen, die ihm da an einem märkischen See eigenarti­gerweise»mit ein paar Enzianstauden in der Hand« gegenübertritt und aus fremden, höheren Regionen zu stammen scheint, dann die Kindsfrau, die auf das Milieu und die ›Fallgeschichte‹ ihrer Mutter zurückverweist. 39 Die