Heft 
(2022) 114
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30 Fontane Blätter 114 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Erzählstrategie ausmachen: Hatte in der Mitte des Romans noch der Erzäh­ler die Begegnung Dubslavs mit Agnes arrangiert, so wird die weitere Ver­mittlung jetzt an die zentrale Romangestalt delegiert. So wie der Erzähler mit dem Erscheinen des Kindes eine Figur der Störung in die überkommene gesellschaftliche Ordnung mit ihrer selbstbezogenen Gesprächskultur ins­talliert hatte, so inszeniert jetzt der schwerkranke Alte die Begegnung des Kindes mit der Repräsentantin des Hauses und der Genealogie. Anlass für den als ungewöhnlich deklarierten Besuch der Stiefschwes­ter und reichen Erbtante Woldemars im Haus sind Nachrichten über Dubs­lavs schlechten Gesundheitszustand, der nach der Heirat und Abreise ­Woldemars und seiner Frau Armgard zur obligatorischen Hochzeitsreise durch Italien die Handlung grundiert. In Abwesenheit des Sohnes dessen Rückkehr erst nach der Beerdigung des Vaters erfolgt und den Roman be­schließt will die gegen ihren Bruder misstrauische und als»herrisch[]« (39/413) charakterisierte Adelheid die notwendige Allianz zwischen den Geschwistern in der sich abzeichnenden kritischen Phase der Erbüber­tragung ­absichern. Dem widersetzt sich Dubslav, indem er den Platz des Sohnes demonstra­tiv durch das Bastardkind ersetzt. Die bloße Präsenz des am Fenster also an einem mehrfach codierten Schwellenraum sitzenden Kindes, das dort an einem langen, schmalen»brandroten« Strumpf strickt, entrüstet bereits die eintretende Adelheid. Und sie droht vollends die Contenance zu verlie­ren, als ihre spitze Frage, für wen das Gestrickte bestimmt sei, von dem Kind mit einem provozierend knappen:»Für mich«(39/417) beschieden wird. Die Antwort ist deshalb von Belang, weil mit dieser spontanen Äußerung von Selbstbewusstsein das bis dahin stumm gebliebene Kind in diesem vo­luminösen Gesprächsroman überhaupt erstmals zur Sprache findet. Von Belang ist die Antwort darüber hinaus, weil es sich hier neben einer anderen Passage um den einzigen Anteil ihrer Figurenrede in Hochdeutsch handelt, in den weiteren, relativ spärlichen Redeanteilen fällt Agnes parallel zu Dubs­lavs Sterben und ihrer Marginalisierung im Haus wieder in den regionalen Dialekt des ›niederen‹ Figurenpersonals zurück. Und schließlich ist die dün­kelhafte Adelheid sogleich auf die symbolische Dimension der Antwort fi­xiert, in der sich Lorenzens Vision von der Moderne als Auflösung der stän­dischen Ordnung durch den individuellen Anspruch auf Selbstbestimmung aus dem Mund einer Deklassierten zu bestätigen scheint. Der Auftritt des Kindes prägt dann das darauffolgende inkriminierende Gespräch zwischen Schwester und Bruder, das sich um das ›heikle Thema‹ der Vaterschaft, aber auch um Zeichen des gesellschaftlichen Umsturzes dreht. Dabei bemüht Adelheid eine deutliche Sprache der Verwandtschaft, bezichtigt den Bruder,»Namen « und»Ehre« des Hauses in Verruf zu brin­gen, und weiß auch sofort, aus einem nicht weiter begründeten Vorwissen