Heft 
(2022) 114
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Unordnung im Stechlin Amannn 31 heraus, die Wäscherin Karline als das damalige Objekt der Begierde zu identifizieren. 41 Der direkten Frage nach der Herkunft des Kindes weicht Dubslav aus. Zwar gibt er sich später seinem Diener Engelke beiläufig als»alter Sünder« (40/423) zu erkennen, angesichts der auf ein peinliches Geständnis drängen­den Fragerei der Schwester zieht er sich indes auf die gewohnte Kunst der Causerie zurück, die ihm, wie bereits erwähnt, zur Lebensmaxime gewor­den ist:»›Unanfechtbare Wahrheiten giebt es überhaupt nicht, und wenn es welche giebt, dann sind sie langweilig‹«(1/8). Das den Roman dominierende Gesetz des Gesprächs, das Spiel mit dem Uneigentlichen, mit Andeutungen und mit Paradoxen kommt in dem Handlungsstrang um das Kind Agnes dem Gesetz der Vaterschaft pater semper incertus est entgegen, das sich ebenso auf Ungewissheiten beruft. Die Ästhetik der Rede und die Rechtsfor­mel vom ungewissen Vater bedingen sich gegenseitig. Der alte Stechlin, der im gesellschaftlichen Umgang für sich keine»unanfechtbare[n] Wahrhei­ten« gelten lässt, vermag auch mit seiner Vaterschaft zu spielen. Diesen Frei­raum nutzt Dubslav aber nicht im Sinne des patriarchalischen Gesetzes, das die alte ständische mit der neuen bürgerlichen Rechtsordnung verbindet und ihn von jeglicher verwandtschaftlichen Verpflichtung befreit. Vielmehr stellt er mit der ungewissen Vaterschaft die symbolische Ordnung und die Genealogie in Frage und bringt im Modus des uneigentlichen Redens seine Indifferenz gegenüber Stand und Herkunft zum Ausdruck. Er lenkt das Gespräch mit der Schwester auf scheinbar Nebensächli­ches, auf Agnes Strickarbeit an den»roten Strümpfen«(39/418), deren Zei­chenhaftigkeit überdeutlich herausgestellt wird, weil das Rote gleichsam als roter Faden im Symbolgeflecht des Romans an dieser Stelle transparent gemacht werden soll. 42 So verweist Agnes mit ihren»roten Strümpfen« auf das auf der ersten Seite des Romans auftauchende Orakel des»roten Hahns«, der wie den Ortsfremden noch stolz mitgeteilt wird den stillen Stechlin-See in der Provinz mit weltweiten Ausbrüchen, Aufständen und Umstürzen konnotiert. Und genau so deutet Adelheid die Erscheinung des Kindes im Haus Stechlin jetzt als Zeichen des Eindringens destruktiver Ele­mente der ›Roten‹ , also des Proletariats, das wie an den Rechtskommenta­ren zum neuen BGB deutlich wurde vor allem durch die wachsende Zahl an illegitimen Kindern die gesellschaftliche Ordnung bedroht. Allerdings ist ›rot‹ auch das Symbol der Lebenskraft und als Farbe des Blutes ein elementares Symbol der Verwandtschaft sowie der Abstammung. Vor allem vor diesem Hintergrund reagiert die auf die Konservierung des »reine[n] Blut[es]«(16/189) bedachte Adelheid so heftig auf die»roten Strümpfe«, in denen sie offenkundig ein Zeichen unerwünschter ›Bluts­ bande‹ entdeckt. Adelheid, die nach eigenem Bekunden»›häßliche Worte nicht gern in den Mund[nimmt]«(39/418), assoziiert mit den»roten Strümp -