Heft 
(2022) 114
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Unordnung im Stechlin Amannn 33 sich diese gegen den Ästhetizismus des Gesprächs durchzusetzen begin­nen, entsteht die von Dubslav so sehr gefürchtete Langeweile. Sowohl der Alte als auch das Kind wissen»auf die Dauer«(40/425) nichts miteinander anzufangen. In dem Maße, in dem sich Dubslav nach anregender Gesell­schaft sehnt, zieht sich Agnes mehr und mehr in das Milieu und den Dialekt des Dienstpersonals zurück. In diesen retardierenden Passagen vor dem Romanende wird eine Zu­rückhaltung des Erzählers spürbar, der Figur des Kindes in dem Ge­sprächskosmos noch einen Platz einzuräumen. Die im Haus anwesende Ag­nes wird eher zu einer oberflächlich konturierten Symbolfigur für die Spannungen des Realismus zwischen romantischer Verklärung(»Sie träumt bloß so hin, und daß sie dies Wesen hatte, das war recht eigentlich, was den alten Herrn so an sie fesselte.«) und realpolitischen Gegebenheiten:»Agnes horchte. Verhaftung. Demokratennest ausgenommen! Das war doch noch besser als ein Märchen«(41/430 f.). Hintergrund für die einzige und ab­schließende Dialogszene zwischen Beiden bildet der Dubslav überbrachte Vorschlag aus dem Kreis der Stechliner Gesellschaft, Agnes in ein geplan­tes»Rettungshaus für verwahrloste Kinder«(42/441) unterzubringen. Ganz im Sinne des Sozialmanagers Rex und der neuen bürgerlichen Rechtsord­nung wird Agnes in dieser Perspektive zum ›Fall‹ einer Illegitimen, die als »sittlich zu Heilende«(42/441) dem modernen System der Überwachung und Kontrolle zugeführt werden muss. 44 Demgegenüber zeigt sich der ster­benskranke Dubslav resigniert: »Agnes, gefällt es dir hier?« »Ja, gnäd´ger Herr, es gefällt mir hier.« »Und ist dir auch nicht zu still?« »Nein, gnäd´ger Herr, es ist mir auch nicht zu still. Ich möchte immer hier sein.« »Na, du sollst auch bleiben, Agnes, solang es geht. Und nachher. Ja, nachher…« Das Kind kniete vor ihm nieder und küßte ihm die Hände.(42/441) Die Szene am Ende seines Lebens suggeriert für einen Moment die Rehabi­litation patriarchalischer Verhältnisse, ersetzt aber die ausgebliebene An­erkennung durch den mutmaßlichen Vater durch eine nur schwach moti­vierte kindliche Geste der Demut. Es handelt sich überdies um eine der wenigen, wenn auch ritualisierten Berührungs-Szenen in diesem an der sprachlichen Mimesis von Körperlichkeit desinteressierten und angesichts des ›heiklen Themas‹ eher verschwiegenen Roman, so dass man sich fragt, wie eigentlich Dubslav v. Stechlin dem Sündenfall seiner Sexualität jemals hat erliegen können. 45