Heft 
(2022) 114
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Unordnung im Stechlin Amannn 35 Dann folgte mit erhobener Stimme Gebet und Einsegnung, und als die Orgel intonierte, senkte sich der auf dem Versenkungsstein stehende Sarg langsam in die Gruft. Einen Augenblick später, als der wiederauf­steigende Stein die Gruftöffnung mit einem eigentümlichen Klappton schloß, hörte man von der Kirchentür her erst ein krampfhaftes Schluch­zen und dann die Worte:»Nu is allens ut; nu möt ick ook weg.« Es war Agnes. Man nahm das Kind von dem Schemel herunter, auf dem es stand, um es unter Zuspruch der Nächststehenden auf den Kirchhof hi­nauszuführen. Da schlich es noch eine Weile weinend zwischen den Gräbern hin und her und ging dann die Straße hinunter auf den Wald zu.(43/450) So wie das Kind in der Mitte des Romans den»leis ansteigenden Weg« aus dem Wald herausgekommen war, kehrt es am Ende wieder dorthin zurück. Das Mitleid der Trauergemeinde beschränkt sich auf den Ort seiner habitu­ellen Verkündigung, jenseits der Kirchentür geht Agnes dem sozialen Tod eines ›Niemandskindes‹ entgegen unabhängig von der am Ende des Ro­mans eigentlich offen gelassenen Überstellung in die moderne Fürsorgein­stitution, das»Rettungshaus«. 49 Nach der überfälligen Rückkehr Woldemars und Armgards von ihrer Hochzeitsreise wird doch noch der Versuch einer Legitimierung der Illegi­timen ein Thema, das Kleists Erdbeben mit seiner späteren fatalen Adop­tionsgeschichte im Findling(1811) verbindet zumindest in Erwägung gezo­gen. Armgards spontaner Vorschlag zu Agnes´ Adoption wird jedoch von Woldemar mit der Begründung zurückgewiesen, man müsse»[s]olche Kin­der, ganz im Gegensatz zur Pädagogenschablone,[] sich selbst überlassen. Der gefährlichere Weg, wenn überhaupt was Gutes in ihnen steckt, ist jedes­mal der bessere. Dann bekehren sie sich aus sich selbst heraus.«(45/459). Im Grunde artikuliert Woldemar nichts anderes als das von Ignoranz zeugende Verhalten der Trauergemeinde gegenüber dem weinenden Kind. Immerhin scheint Woldemar seinen Kleist gelesen zu haben. Am An­fang des Romans passieren er und seine Regimentskameraden auf der Ave­nue zum Familienbesitz zwei riesige schwarze Steinblöcke, die den beiden Kameraden»wie die Cherubim« vorkommen, woraufhin Woldemar sie über die»Findlinge« aufklärt, obgleich das Wort»anstößig«(2/18) sei. Zum Stein des Anstoßes wäre ihm Agnes geworden, wenn er sich eine mutmaß­lich illegitime Halbschwester ins Haus geholt hätte, zumal es durchaus An­zeichen dafür gibt, dass die kalkulierte und ohne jegliche Emotionalität auskommende Ehe mit Armgard kinderlos bleibt. 50 Eine solche Vermittlung zwischen Altem und Neuem war in der Ordnung der Narration allerdings nicht vorgesehen.