Heft 
(2022) 114
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Experimente mit der Erzählerfigur  Grüne 55 Wer erzählt? Experimente mit der Erzählerfigur oder: Warum Fontane nie einen Briefroman schrieb Matthias Grüne Fontanes Urteile sind gelegentlich»etwas wackliger Natur« 1 , auch in erzähl­theoretischen Fragen. Für den jungen Rezensenten von Gustav Freytags Soll und Haben steht noch fest, dass man»die Hände des Puppenspielers nicht sehen« wolle, entsprechend kritisiert er die Stellen des Romans, an denen die Meinungen und Ansichten des Autors zu stark durchscheinen. 2 Als ihn rund 24 Jahre später der gleiche Vorwurf trifft und ein Kritiker die gelegentlichen Leseransprachen in Vor dem Sturm bemängelt, will er von seinem früheren Rigorismus nichts mehr wissen. Die Einwände des Kritikers tut er gegen­über Wilhelm Hertz als»reine Quackelei« ab und ergänzt:»Dies beständige Vorspringen des Puppenspielers in Person, hat für mich einen außerordent­lichen Reiz und ist recht eigentlich das, was jene Ruhe und Behaglichkeit schafft, die sich beim Epischen einstellen soll.« 3 Ganz ähnlich klingt es in den zeitnah dazu entstandenen Notizen zum Romanplan Allerlei Glück. Fon­ tane projektiert darin ein Kapitel,»das nur persönlich plaudert, indem der hinter der Wand stehende Puppenspieler hervorgetreten ist und sich nun an das Publikum adressirt«. 4 Performativ sollte so der Ansicht widersprochen werden,»daß es nicht erlaubt sein soll, den Gang der Erzählung zu unterbre­chen«(F I, 140). Wie ein solch metanarrativer Diskurs hätte aussehen kön­nen, verrät der kleine, fragmentarische Text mit der Überschrift Die Kunst des Erzählens. Der Autor stellt darin die ganze Diskussion um die Vorder­gründigkeit der Erzählinstanz als eine Scheindebatte dar:»Ob ich als Pup­penspieler hinter der Coulisse bleiben oder alle Augenblicke philosophirend oder erklärend vortreten will, ist gleichgültig«(F I, 429). Grundsätzlich sei es zwar besser, hinter der Szene zu verschwinden, doch auch eine dominante Erzählerfigur könne reizvoll sein, so sie denn nur eine»reiche, starke, lie­benswürdige Persönlichkeit« vorstelle(ebd.). Die Kontinuität der Metaphorik David Turner hat gezeigt, dass sie wohl auf die Lektüre von Thackerays Roman Vanity Fair zurückgeht 5 sollte nicht über den Wandel im Urteil hinwegtäuschen. Vermutlich war sich Fontane selbst dieser Veränderung nicht bewusst, wobei nicht auszuschließen ist,