74 Fontane Blätter 114 Dossier: Fontanes Fragmente (F I, 384).»Herr F. « wird mit den zitatähnlichen Worten»in München wohl bekannt« vorgestellt. Im Gegensatz zur später in Erscheinung tretenden» Frl. S. « lassen sich die Identitäten der beiden Gesprächspartner unschwer erkennen. Da dieses Gespräch in etwa datierbar ist(1859/60, also nach Fontanes Rückkehr aus München , aber vor König Friedrich Wilhelms IV. Tod; F II, 293), darf davon ausgegangen werden, dass Fontane der siebzehnjährigen Protagonistin des»Dönniges-Stoffes« und also ca. zwei Jahre vor dem Ereignis, das den Namen des»Fräuleins« in die Schlagzeilen brachte, begegnete. Das hier demonstrierte Geschick des»Fräuleins«, berühmte Dichter wie Friedrich Bodenstedt zu imitieren, ist kein nur persönlicher Eindruck Fontanes, vielmehr wurde diese Fähigkeit schon von anderen beobachtet. 12 Da in dieser Gesprächsszene auch Paul Heyse erwähnt wird, ist ein weiterer Austausch von Nachrichten über» Frl. v. D. « nicht auszuschließen, obwohl der Heyse-Fontane-Briefwechsel keine diesbezüglichen Eintragungen aufweist. Mit dem»Dönniges-Stoff« 13 ist die Geschichte der nicht nur»im W.’schen Hause« auffallenden Helene von Dönniges (1843–1911) gemeint, die sich bald in ebenso plötzlicher wie leidenschaftlicher Liebe zu Ferdinand Lassal le von ihrem ersten, gleichaltrigen Verlobten, Fürst Yanko von Racowitza, trennt, um sich spontan mit dem doppelt so alten Lassalle zu verloben, dann aber, nach den»kurzen 8 Tage[n], die wir einander angehörten«, 14 dem Druck der Eltern, die eine solche Verbindung verhindern wollen, nachgibt. Äußerer Zwang und ›tragische‹ Missverständnisse führen dazu, dass sie die neue Verlobung abrupt auflöst, woraufhin Lassalle den Brautvater zum Duell fordert und im Schusswechsel mit dessen Ersatzmann, Helenes ›verlassenem‹ Verlobten, zu Tode kommt. Kurz darauf heiratet Helene den fürstlichen ›Mörder ihres Geliebten‹ – ein»Monstrum der Herzlosigkeit« 15 , gar eine»abscheulich[e]« Frau 16 wie die biblische Judith für Hebbel, oder doch eine»grundgescheite, feurige Persönlichkeit«, die aber»tragisch enden« musste? 17 Es kommt hinzu, dass sich Fontane neben dem»Dönniges-Stoff« mit Fer dinand Lassalle als wichtiger Figur des»literarischen Berlin von 1840 bis 1860« befasste. Dass im gewählten Zeitrahmen»bis 1860« noch nicht von Helene von Dönniges die Rede sein konnte, liegt auf der Hand, weil die Geschichte der Verlobung erst später stattfand. Ob» Frl. v. D. « in späteren Gesprächen mit Lina Duncker über Lassalle 18 eine Rolle gespielt hat, lässt sich nicht sagen. Es fällt aber auf, dass Fontane überhaupt – soweit man heute sehen kann – Helene von Dönniges , abgesehen vom Gespräch»im W.’schen Hause«, nie erwähnt, obwohl er viele Gelegenheiten dazu gehabt hätte. So wie Fontane sein Projekt skizziert, endet sein»Dönniges-Stoff« keineswegs mit der ›verwerflichen‹ Hochzeit. Denn das Leben der nunmehrigen Helene von Racowitza geht auch in seinem Konzept turbulent weiter. Der Fürst stirbt bald und hinterlässt ihr nichts. Das Salon-Leben, das Hele ne von Dönniges von Kindheit an beherrscht, liebt und in München , Turin ,
Heft
(2022) 114
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