138 Fontane Blätter 114 Freie Formen sen Vorstellungenvon der Rolle der Frau, über die Einstellungen zum Staat oder zu den Anliegen der Nachbarn, der Polen und der Tschechen zum Beispiel, über die Rolle der Juden, nicht zuletzt auch über die Kirchen(immer mit Blick auf das Viktorianische England im Hintergrund), wird der Blick auf die Besonderheiten der deutschsprachigen Literatur(im Kontext der englischen, französischen, italienischen und russischen Literatur) in einem bis dahin unerhörten Ausmaß geschärft. Es ist darüber hinaus die Aufmerksamkeit auf das bemerkenswerte Detail, das gern übersehen wird, aber doch keinesfalls vernachlässigt werden sollte, was Eda Sagarra so sehr an Fontane schätzt und auch für die eigene Arbeit von ihm übernimmt – neben dessen zutiefst humaner Haltung und dessen Neigung zur Selbstironie, versteht sich. Ein unbestechlicher Blick einerseits, ein Blick auch hinter die schweren Vorhänge, die gewöhnlich vieles verdecken; andererseits der Verzicht auf Zumutungen, die vom Wesentlichen oft genug nur ablenken. Eda Sagarra hält es in ihren Büchern und Abhandlungen so wie Fontane in den Wanderungen, im Kapitel Schloss Rheinsberg , ganz ähnlich wie er dort seine Leserinnen und Leser führt, nämlich» gleich zum Besten, was es da gibt«, er» setzt sie an die richtige Stelle, richtet das Leserauge hierhin und dorthin, wo Sehenswürdiges ist, sagt ihnen, wie das so ist, geht mit der Zeit und Aufmerksamkeitsspanne seiner Leute einfühlsam um, sagt ihnen genau, was sie sich schenken können und begründet sein Urteil[…].« 3 In ihrer Stechlin-Modellanalyse(München 1986) 4 nimmt sie denn auch nicht nur die Hauptprotagonisten in den Blick, sondern das gesamte Figurenensemble, Figuren aus allen Ständen und Klassen; ist doch in diesem Roman ein möglichst vollständiges Bild der Gesellschaft angestrebt. Das ästhetische Vergnügen, das die Lektüre des Romans bereitet, kommt dabei nie zu kurz; aber die Zeichnung der politischen Institutionen, der Sozialstruktur, der Bezug zur Wilhelminischen Gesellschaft(vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die England geboten hat – und zwar dem Autor ebenso wie Eda Sagarra ), alle diese Phänomene, die mittlerweile doch eines Kommentars bedürfen, werden hier ebenso gründlich wie temperamentvoll erörtert. Der Stechlin ist bekanntlich zunächst in der Familienzeitschrift Über Land und Meer erschienen. Derartigen Blättern, insbesondere dem konfessionellen Literaturbetrieb im gesamten deutschsprachigen Raum hat Eda Sagarra wiederholt eine bewundernswerte Aufmerksamkeit geschenkt. Arbeitsintensive aber zugleich unglaublich spannende Untersuchungen; ihre 1988 erschienene Studie über Ida von Hahn-Hahn und den katholischen Buchmarkt 1850–1878 beginnt denn auch wie eine Erzählung von Heinrich von Kleist : Im Frühjahr 1850 wurde die literarische Welt in Deutschland durch die Nachricht erregt, daß die für ihre exzentrischen Auftritte schon be-
Heft
(2022) 114
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