Heft 
(2022) 114
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144 Fontane Blätter 114 Freie Formen ihn kein deutscher Professor der Germanistik (damals waren, wie es mir schien, Professoren zu 99% männlichen Geschlechts) in seiner Vorlesung. Wie ich zu ihm kam, hängt eng mit meinem eigenen Lebensweg zusam­men. Als in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geborene Irin glich mein Los dem von 60% ja sechzig Prozent! meiner Landsleute, die auf der Suche nach Arbeit auszuwandern gezwungen waren. Unsere Nachbarinsel England(auf die wir Iren sonst so gern schimpften) nahm mich recht freundlich auf, und zwar in Form einer Assistentenstelle an der Universität Manchester , der nordenglischen Stadt also, die Fontane fast ein Jahrhundert zuvor besucht und in der er seinen wundervollen Bericht über die dortige große Kunstausstellung geschrieben hatte. Fontanes erste Ein­drücke der Stadt waren, wie meine eigenen, nicht gerade vielversprechend. Aber weil es im Leben oft anders kommt als erwartet, wurden die nächsten zwanzig Jahre an meiner Wirkungsstätte, um mit Fontane und seinem Sir Walter-Gedicht zu reden,»[g]anz Chester und ganz Lancashire « 2 , reich an Erfahrungen darunter die der schicksalhaften Begegnung mit unserem Dichter. Bei mir war es gleich: Love at first sight: Liebe auf den ersten Blick. Für deutsche Verhältnisse, wo man nicht über das spricht, worüber man keine Kenntnisse hat, waren die begleitenden Umstände dieser Erstbegegnung mit Fontane dennoch ziemlich abwegig. Ich war schon im dritten Jahr mei­ner gemütlichen Assistentenzeit, als mein Chef Professor Ronald Peacock mich Anfang Juli 1962 zu sich rief und mich kurz und bündig informierte: »Frau OShiel«, sagte er(so hieß ich damals),»fürs kommende Jahr habe ich soeben eine Gastprofessur in Freiburg im Breisgau angenommen. Sie über­nehmen meine Vorlesung ›Deutsche Geschichte zwischen den Weltkriegen‹ sowie mein Drama-Seminar.« Als ich ihn leicht schockiert ansah, aber nicht mehr als gehorsamst »selbstverständlich, Herr Professor« über die Lippen brachte, fügte er noch hinzu: »Oh ja, Sie können noch mit den Frühsemestern eine Fontane-Textübung dazunehmen.« »Wer ist dieser Fontane?«, fragte ich naiv,»der Name ist mir neu.« »Bis Oktober werden Sie ihn schon kennen«, kam die Antwort, aber dann etwas freundlicher,»er passt gut zu Ihnen«. Prophetische Worte! Wie Sie sich denken können, konnte in den folgenden Sommerferien von Urlaub wenig die Rede sein. Die Geschichtsvorlesung machte zwar großen Spaß ich hatte ja Geschichte im Hauptfach studiert, aber Professor Peacocks Drama-Seminar, nicht zuletzt seine Vorliebe für Friedrich Hebbel , ließ mich kaum schlafen. Wie ruht man sich nach stunden­langer Hebbel -Lektüre und, mehr noch, nach Lektüre der damaligen Heb­ bel -Kritik aus? An einem stillen Augustwochenende, an dem alle Bekannten aus meiner Dubliner Heimat ausgeflogen waren und ich allein zu Hause blei-