148 Fontane Blätter 114 Freie Formen folgreichen Berufsgenossen Freytag, Dahn, Heyse oder Spielhagen bietet Fontane uns keine zweidimensionale Mentalitätsgeschichte, sondern hinterfragt andauernd das gängige Bild. Als ich mich im Rahmen der Vorstudien zu meinen beiden Bänden Tradition und Revolution. Deutsche Literatur 1830–1890(München 1972) und A Social History of Germany 1648–1918(London 1977) in Fontanes Oeuvre vertiefte, gingen mir die Augen auf: Die schöngeistige Literatur einer Epoche ist eine vorzügliche Quelle für jede und jeden, der oder die sich mit der Sozial- und Mentalitätsgeschichte eines Volks befasst. – Und so brauchte ich mich auch nicht zwischen einem Leben als Historikerin oder als Literaturwissenschaftlerin zu entscheiden; vielmehr ging, um es wiederum mit Fontane auszudrücken: sowohl als auch. Die weiteren Stadien meines Lebenswegs mit Fontane sollen im Folgenden nur kurz skizziert werden: 1973 Jahre lernte ich Charlotte Jolles kennen. Wir blieben im ständigen Kontakt; als sie an das Trinity College Dublin kam, wurde sie von unseren Studierenden geradezu umworben. Eine kleine Begebenheit aus ihrem gerade zu Ende gehenden zweistündigen Seminar zu Schach von Wuthenow hätte den Anekdotenliebhaber Fontane entzückt: Ein Kollege aus der Nachbaruniversität, ein ziemlich ältlicher, menschenscheuer Junggeselle, unterbrach sie plötzlich und offensichtlich äußerst erregt:»Schuld war diese Victoire, diese schreckliche Frau, sie hat ihn verführt – lassen Sie bitte, Frau Professor, den armen Schach in Ruhe …« Während der Mitarbeit an der fast 700 Seiten starken Festschrift für Charlotte Jolles (1979) unter der Herausgeberschaft ihres Doktoranden Jörg Thunecke kam ich mit fast allen Größen der damaligen Fontane -Forschung in Ost und West in Kontakt. Ganz besonders wertvoll war der Kontakt zum Fontane-Archiv, namentlich zum Herausgeber der Romane und Erzählungen beim Aufbau-Verlag Gotthard Erler, der uns 1982 und 1986 in Irland besuchte und mir dann in Sachen Fontane zum Mentor wurde. Mit ihm und seiner Frau Therese verband mich bald eine enge Freundschaft. In seiner Begleitung durfte ich den wundervollen Stechlin-See besuchen und 1986 mein Stechlin-Buch herausgeben, worauf in den nächsten Dezennien noch manches zu Aspekten von Institutionen und Persönlichkeiten des Zweiten Kaiserreichs folgen sollte, das Fontane uns über die Perspektiven bzw. Vorurteile der Figuren der großen Erzählwerke vermittelt.
Heft
(2022) 114
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