Heft 
(2022) 114
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Fontane und die Realisten  Böttcher 167 (vgl. S. 43). Dass ausgerechnet Auerbach im ersten Band seiner Schwarz­wälder Dorfgeschichten(1843) mehrfach äußerst kunstvoll und geradezu metapoetisch den Bruch mit einer strengen kausallogischen Motivierung ausstellt, blendet solch schematische Betrachtungsweise ebenso aus wie z. B. die Umstände, dass Fontane an Freytags Soll und Haben(1855) insbe­sondere die Komposition und Motivierung würdigte, dass er den Roman zur »erste[n] Blüte des modernen Realismus« erklärte und dass Soll und Haben mit seiner am englischsprachigen Realismus geschulten ironisch-humorvol­len Erzählhaltung, seinen wechselnden Fokalisierungen und seinen Ansät­zen zum multiperspektivisch-mehrsinnigen Erzählen kaum angemessen als Gegenmodell zu Fontane aufgebaut werden kann(vgl. ebenso S. 379 ff.) auch weil dadurch nicht nur die nachmärzliche Literaturpolitik und die ge­meinsamen Begründungszusammenhänge des programmatischen Realis­mus, sondern die literarischen Verfahren selbst aus dem Blick geraten. Das Spannungsfeld zwischen»Weltgehalt und Eigensinn« erweist seine Tragfähigkeit vor allem in Auseinandersetzung mit Fontanes Dichtungs­verständnis, besonders mit seiner Verklärungsidee, die erhellend umrissen wird(vgl. u. a. S. 62; 103–106) und im Kern auf die künstlerische Transfor­mation von Weltgehalten abhebt, dabei gleichermaßen als realismuskonsti­tutives Darstellungsverfahren einerseits und weltanschaulich-sinnstiften­de Kategorie andererseits diskutiert wird. Den Eigensinn der dann im Folgenden porträtierten Autor:innen bilden die für sich stehenden und von darstellungstechnischem Eigensinn gekennzeichneten Einzelstudien inso­fern deutlich ab, als explizite Abgleiche mit und Bezüge auf Fontane nicht forciert, sondern teilweise nahezu ganz unterlassen werden. Von»Fontane und die Realisten« verlagert das Buch seine Perspektive zu»Die Realisten und Fontane «. Die Aufsätze bieten keine vollständige Bestandsaufnahme wechselseitiger Äußerungen, literarischer Schnittmengen und Bezugnah­men. Vielmehr lassen sie sich von selbstgewählten Akzenten leiten, führen beispielsweise anhand von Interpretationsskizzen ausgewählter Einzelwer­ke in die jeweiligen Werkbiographien der Porträtierten ein und bieten in der Gesamtschau eine Fülle verschiedener Blickwinkel und Herangehens­weisen wie überhaupt das Buch durch einen höchst eigenständigen, be­herzt-unverbrauchten und in der Lektüre immer wieder überraschenden Zugriff geprägt ist. Hervorzuheben sind außerdem die von Kunst-Studie­renden der Europa-Universität Flensburg gestalteten Autor:innenporträts, die auf der Vorlage bekannter zeitgenössischer Abbildungen aus Namen und Textbestandteilen arrangiert wurden und so noch einmal künstlerisch das im Band dargelegte Wirklichkeitsverständnis aufnehmen, dadurch zum aufmerksamen Hineinzoomen einladen. Das Fehlen eines Registers und Literaturverzeichnisses kann man darüber glatt verschmerzen. Philipp Böttcher