Heft 
(2022) 114
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Carl August Varnhagen und Charlotte Williams Wynn  Kittelmann 169 nisse verfügende Charlotte in seinen Bann. Trotz des Altersunterschiedes fassten beide erstaunlich schnell Zutrauen zueinander und setzten ihre von Charlottes Familie zunächst wohlwollend beobachtete Bekanntschaft in ei­nem gemeinsamen Aufenthalt in Bad Ems fort. In die allgemeine»Atmo­sphäre des Entgegenkommens«(S. 20) mischten sich bald nützliche An­sprüche und Aspekte: Varnhagen sollte Williams Wynns Sprachlehrer sein und ihr Deutsch beibringen. Englisch war zu dieser Zeit längst noch nicht als»Weltsprache etabliert«(S. 31). Vorherrschend war immer noch das Französische, das auch Varnhagen häufig in seinen Korrespondenzen nutz­te. Viele Deutsche taten sich mit dem Englischen schwer. So erwähnt Spren­gel die in der Zeit kursierende Anekdote, dass die schwierige englische Aussprache eine Dame»einige Zähne gekostet«(S. 31) habe. Gleichwohl strebte die aus Wales stammende und dort zuweilen auch lebende Williams Wynn in ihren(bald in den schriftlichen Raum verlagerten) Gesprächen permanent auf eine»Erlernung des aktiven Sprachgebrauchs« hin(S. 31). Varnhagen suchte sie nicht zuletzt über die Literatur an die deutsche Spra­che heranzuführen. Unter anderem lasen beide gemeinsam Goethe, Uhland und Rahel. Charlotte spürte da bereits ein»ungewöhnliches Angezogen­sein für alles Deutsche «(S. 35); ein Gefühl, das sie ihr Leben lang begleitete und das sich in ihren Briefen an Varnhagen geradezu materialisierte. Von Liebe war während der gemeinsamen Lektüren(noch) nicht die Rede. Aber von Nähe, Anziehung und dem Wunsch, sich nicht mehr aus den Augen zu verlieren und zumindest auf dem Papier beieinander zu bleiben. Tatsächlich bildete diese Begegnung zwischen Varnhagen und Williams Wynn im Sommer 1836 den Auftakt einer mehr als 20-jährigen Korrespon­denz, die ursprünglich nicht ans Licht der Öffentlichkeit kommen sollte. Wynns handschriftlichem Hinweis»Varnhagen´s Letters/ To be burnt« (S.  11), der zugleich als Anweisung an die Nachwelt lesbar ist und der sich auf einem»großen Umschlag« fand, der»Hunderte kleinformatige, in win­ziger Zierschrift bekritzelte[] Briefbogen von verschiedener Farbe«(ebd.) enthielt, sind die Nachfahren der Schreiberin glücklicherweise nicht nach­gekommen. Die Briefe landeten nicht im Kamin, sondern in den Händen der Berliner Staatsbibliothek, die das Konvolut 2019 bei einer Auktion erstei­gerte. Dass so kurz nach der Erwerbung bereits eine Erschließung und Auswertung vorliegt, ist gleichsam als großer Glücksfall zu werten. Spren­gel präsentiert hier ein wahres Juwel, das sich nicht nur für die allgemeine Literaturgeschichte des mittleren 19. Jahrhunderts, sondern auch für die Briefforschung, den deutsch -englischen Kulturtransfer, die Geschichts­schreibung, die Sozial-, Gender- und Mentalitätsgeschichte oder die histo­rische Reiseforschung als überaus bedeutsames Zeugnis erweist. In diesen Briefen findet man in konzentrierter Form das intime, mehrstimmige und mehrsprachige Porträt einer ganzen Epoche.