Heft 
(2022) 114
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170 Fontane Blätter 114 Rezensionen Angetan von den gegenseitig gewechselten Briefen waren nicht nur Varn­hagen und Williams Wynn, sondern dürften wohl auch die heutigen Lese­rinnen und Leser sein. Dass man sich schon nach wenigen Seiten mitten im Dialog des ungleichen Korrespondenzpaares befindet und das Buch immer weiterlesen will, ist nicht zuletzt das Verdienst Sprengels, der das Material überzeugend arrangiert hat. Sein Buch ist nicht nur, wie es bescheiden heißt, eine»erste Auswertung«(S. 11) oder»Nacherzählung des Briefwech­sels«(S. 344), sondern ein literarischer Kunstgriff, der mit seinen Montage­verfahren, seiner zurückhaltenden, aber stets fundierten kommentieren­den Begleitung des epistolographischen Geschehens und nicht zuletzt seiner offensichtlichen Begeisterung für das Medium Brief überzeugt. Dass seine außerdem noch mit zahlreichen ansprechenden Abbildungen ausge­stattete Darstellung sehr gut lesbar ist, liegt nicht zuletzt daran, dass Spren­gel im Vorfeld die englischsprachigen Briefe Charlotte Williams Wynns übersetzt hat. Für den Lesefluss erweist sich dieser Umstand als äußert an­genehm. Auf die Originalstimme muss man freilich nicht verzichten. Die Transkription der englischen Briefe, bei deren Durchsicht Daniel Göske mitgewirkt hat, sind im Anhang wiedergegeben und somit als Quelle voll­ständig nutzbar. Auf etwa vierhundert Seiten und in vier großen Kapiteln spürt Sprengel den Themen, Inhalten sowie den sprachlichen und materiellen Dimensionen des Briefwechsels nach, der nach der ersten Begegnung auf dem Rhein rasch an Intensität gewann und an Fahrt aufnahm. Der Strom an Briefen war nahezu unerschöpflich. Der Austausch, der 525 im Original und/oder als Abschrift überlieferte Briefe Varnhagens ursprünglich dürften es Sprengel zufolge mehr als tausend(S. 11) gewesen sein und knapp 150 er­haltene Originalbriefe Charlottes umfasst, ist zeitlich auf die späten 30er­sowie die 40er- und 50er- Jahre des 19. Jahrhunderts konzentriert. Flankiert von historischen Großereignissen wie der Thronbesteigung Königin Victo­rias und Friedrich Wilhelms IV., dem Auszug der Göttinger Sieben, der 48er-Revolution, die Varnhagen in Berlin hautnah miterlebte, dem Staats­streich in Paris oder dem Krimkrieg, in dem ein geliebter Cousin Charlottes sein Leben verlor, eröffnen die Briefe fortwährend intime Einblicke in den privaten Alltag, die Interessen, die Reisetätigkeit, das Lesepensum, die Lek­türevorlieben und vor allem in das Gefühls- und Seelenleben von Schreibe­rin und Schreiber. Dabei wahrt die Korrespondenz, die mit Varnhagens Tod im Jahr 1858 endete, stets den Charakter eines überaus innigen deutsch­englischen Kulturkontakts, der zugleich durch die verschiedenen Perspekti­ven der beiden Akteure besticht. Als ein wesentliches Bindeglied des Brief­wechsels erweist sich die Literatur. Varnhagen und Williams Wynn unterhielten sich fortwährend über Neuerscheinungen und Entwicklungen des literarischen Parketts, tauschten sich über zeitgenössische Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus, vermittelten Kontakte, wie etwa jenen zwischen