170 Fontane Blätter 114 Rezensionen Angetan von den gegenseitig gewechselten Briefen waren nicht nur Varnhagen und Williams Wynn, sondern dürften wohl auch die heutigen Leserinnen und Leser sein. Dass man sich schon nach wenigen Seiten mitten im Dialog des ungleichen Korrespondenzpaares befindet und das Buch immer weiterlesen will, ist nicht zuletzt das Verdienst Sprengels, der das Material überzeugend arrangiert hat. Sein Buch ist nicht nur, wie es bescheiden heißt, eine»erste Auswertung«(S. 11) oder»Nacherzählung des Briefwechsels«(S. 344), sondern ein literarischer Kunstgriff, der mit seinen Montageverfahren, seiner zurückhaltenden, aber stets fundierten kommentierenden Begleitung des epistolographischen Geschehens und nicht zuletzt seiner offensichtlichen Begeisterung für das Medium Brief überzeugt. Dass seine außerdem noch mit zahlreichen ansprechenden Abbildungen ausgestattete Darstellung sehr gut lesbar ist, liegt nicht zuletzt daran, dass Sprengel im Vorfeld die englischsprachigen Briefe Charlotte Williams Wynns übersetzt hat. Für den Lesefluss erweist sich dieser Umstand als äußert angenehm. Auf die Originalstimme muss man freilich nicht verzichten. Die Transkription der englischen Briefe, bei deren Durchsicht Daniel Göske mitgewirkt hat, sind im Anhang wiedergegeben und somit als Quelle vollständig nutzbar. Auf etwa vierhundert Seiten und in vier großen Kapiteln spürt Sprengel den Themen, Inhalten sowie den sprachlichen und materiellen Dimensionen des Briefwechsels nach, der nach der ersten Begegnung auf dem Rhein rasch an Intensität gewann und an Fahrt aufnahm. Der Strom an Briefen war nahezu unerschöpflich. Der Austausch, der 525 im Original und/oder als Abschrift überlieferte Briefe Varnhagens – ursprünglich dürften es Sprengel zufolge mehr als tausend(S. 11) gewesen sein – und knapp 150 erhaltene Originalbriefe Charlottes umfasst, ist zeitlich auf die späten 30ersowie die 40er- und 50er- Jahre des 19. Jahrhunderts konzentriert. Flankiert von historischen Großereignissen wie der Thronbesteigung Königin Victorias und Friedrich Wilhelms IV., dem Auszug der Göttinger Sieben, der 48er-Revolution, die Varnhagen in Berlin hautnah miterlebte, dem Staatsstreich in Paris oder dem Krimkrieg, in dem ein geliebter Cousin Charlottes sein Leben verlor, eröffnen die Briefe fortwährend intime Einblicke in den privaten Alltag, die Interessen, die Reisetätigkeit, das Lesepensum, die Lektürevorlieben und vor allem in das Gefühls- und Seelenleben von Schreiberin und Schreiber. Dabei wahrt die Korrespondenz, die mit Varnhagens Tod im Jahr 1858 endete, stets den Charakter eines überaus innigen deutschenglischen Kulturkontakts, der zugleich durch die verschiedenen Perspektiven der beiden Akteure besticht. Als ein wesentliches Bindeglied des Briefwechsels erweist sich die Literatur. Varnhagen und Williams Wynn unterhielten sich fortwährend über Neuerscheinungen und Entwicklungen des literarischen Parketts, tauschten sich über zeitgenössische Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus, vermittelten Kontakte, wie etwa jenen zwischen
Heft
(2022) 114
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