172 Fontane Blätter 114 Rezensionen verbarg Varnhagen seinen Kummer nicht. Sein Briefpapier war zeitweilig gesättigt von Tränen, wie sie eigentlich, wie Sprengel zurecht vermerkt, eher das empfindsame Zeitalter kannte(S. 129). Varnhagens anrührende Tränenbriefe erinnern an Schreiben Anna Louisa Karschs und Johann Wilhelm Ludwig Gleims, wobei im Sommer 1761 Karsch die Abgewiesene war und Gleim deutlich kälter als Williams Wynn auf ihr Liebesangebot reagierte. Beide Korrespondenzen verbindet, dass sie nach der großen Enttäuschung nicht eingestellt, sondern inniger und intensiver wurden. Wenn eine Liebesbeziehung im wirklichen Leben nicht möglich war, sollte sie zumindest als ›Briefliebe‹ überdauern. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, schöpften Varnhagen und Williams Wynn die Möglichkeiten brieflicher Kommunikation umfassend aus. Wer dem der Briefforschung nicht fremden Gedanken anheimfällt, dass sich die Geschichte des Briefes bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts vollendet hat, 1 wird hier unzweifelhaft eines Besseren belehrt. Zwar lassen sich auch bei Varnhagen und Williams Wynn Zeichen eines Fortbestehens bzw. eines Rückgriffs auf eine maßgeblich im 18. Jahrhundert entwickelte Kultur des Privatbriefes erkennen. Gleichwohl probieren die beiden Schreiber neue Spielarten des Mediums aus, performen, variieren, experimentieren. Die für den Brief charakteristische Mehrdimensionalität tritt in diesem Briefwechsel geradezu exemplarisch hervor, in dem er als historisch-biographisches Ego-Dokument, Informations- und Wissensspeicher, pragmatische Textsorte, literarische Gebrauchsform und Gattung, aber auch als materiales oder epistemisches Objekt, intimes Medium und Ereignis, schriftliches Gespräch, Kulturtechnik und Kulturmuster, symbolische Distanzregulierung oder als Kommunikationsform zwischen Kontinuität und Wandel erscheint. Insofern kommt man bei der Lektüre auch der Frage ein Stück weit näher, was ein Brief eigentlich ist – eine Frage, an der sich die Briefforschung seit Jahren abarbeitet. 2 Der Brief kann demnach nicht fest definiert werden, sondern zeichnet sich durch eine situations- und schreibergebundene Offenheit und Vielstimmigkeit aus. Grundlegend ist dafür eine Briefeuphorie, die von der Resignation gegenüber dem Brief, wie sie einige Jahrzehnte später unter anderem in Kafkas epistolarem Pessimismus und seinem berühmten ›Gespensterbrief‹ zu spüren ist, noch nichts weiß. In Zeilen an Milena Jesenská hatte Kafka das Briefeschreiben als das»große Unglück meines Lebens« bezeichnet. Im Gegensatz zu Menschen hätten ihn Briefe immer betrogen, klagte er. Die ganze Briefschreiberei sei ein»Verkehr mit Gespenstern«. Mit dem Satz»Wie kam man nur auf den Gedanken, daß Menschen durch Briefe mit einander verkehren können« erklärte Kafka eine der großen Utopien des 18. und 19. Jahrhunderts für gescheitert. 3 Von diesem Scheitern ist bei Varnhagen und Williams Wynn(noch) nichts zu spüren. Im Gegenteil: Beide glaubten und vertrauten auf die Macht der brieflichen Kommunikation. Sie»wussten was
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(2022) 114
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