Heft 
(1991) 52
Seite
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meisten Leser jedoch immer wieder ungewöhnlich ist: es wird keine Geschichte erzählt, es gibt eigentlich keine Handlung, von dieser Seite passiert nichts, was fesseln könnte. Vielmehr formuliert sich vor den Augen des Lesers ein un­unterbrochener monologischer Redefluß eines alten Ribbecker Bauern. Der ganze 80seitige Text besteht aus einem einzigen Satz, dessen Rhythmus durch Kommata begrenzte Absätze bestimmen.

Anlaß dieses monologischen Redeschwalls ist eine im März 1990 stattfindende Feier auf dem Dorfplatz mit Westberliner Besuchern, die großzügig Bier und Birnengeist, Bratwurst und Kartoffelchips und sogar einen neuen Birnbaum spendieren.

Zwei Welten treffen aufeinander, zwei Arten zu denken und zu fühlen, zu leben und zu sprechen: die scheinbar idyllische Provinz, die sich sukzessive im Monolog als geschichtliche Antiidylle entlarvt, und der Klischee-Westen. Im gleichen Zug gelingt und mißlingt etwas dem Autor. Hervorragend sein durch genaue Recherche ermöglichtes Einfühlungsvermögen in Denken und Lebens­weise der Ribbecker, zu sehr Karikatur die einfallenden Westberliner, zu viel Schwarz-Weiß, zu wenig Schattierungen. Will der Autor, was ganz offensicht­lich wird, soziale Wirklichkeit deutlich konturieren, so kann er allemal mit diesem Vorwurf leben; der Leser, gerade der heute sozial und konkret von den Folgen der Einheit Deutschlands Betroffene, ebenfalls.

Tiefer greift unser Zweifel, betrachten wir die formale Bewältigung des Ge­genstandes, der Erzählung. Bei stetigem Voranschreiten des Monologs, der sich mit zunehmendem Alkoholgenuß des Erzählers radikalisiert in seiner Offenheit, häufen sich die Wiederholungen, reicht die Atemluft bei weitem nicht bis zum Ende der Erzählung. Und, noch wichtiger, Delius versucht, ohne ironische Brechung mit einem erzählerischen Grundmuster der Moderne (H. Broch, S. Beckett, A. Schnitzler, Th. Bernhard) auf .realistische' Weise nicht die psychischen, sondern die sozialen Deformationen transparent zu machen. Es entsteht eine Unentschiedenheit in der formalen Bewältigung des Stoffes, die sich in letzter Instanz auf die Glaubwürdigkeit des Erzählten negativ aus­wirkt. Bei aller Vorliebe für die Aktualität dieses Textes, Delius hätte sich mehr Zeit nehmen müssen!

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