Brief an die Redaktion
Christian Grawe, Melbourne
Wer in den Spiegel sieht und sich nicht erkennt, der erschrickt. Mir log der Spiegel - um es Fontanisch zu sagen -, als ich in den Fontane Blättern (Heft 51) Volker Giels Rezension meines Fontane-Artikels in Reclams Deutsche Dichter, Bd. 6: Realismus, Naturalismus und Jugendstil (Stuttgart 1989) las. Die Besprechung zeigt erstaunlich wenig Verständnis für die Aufgabe eines Handbuchartikels. Der Rezensent hätte doch wohl fragen müssen: Erfüllt der Aufsatz seinen Zweck, das heißt, ist er eine vertretbare kurze Gesamtdarstellung von Fontanes Entwicklung und Werk im Rahmen eines Sammelbandes, der für ein breiteres Publikum gedacht ist und eine bestimmte Zeit der deutschen Literatur in Autorenporträts vorstellt, wobei der Begriff Realismus als Orientierungspunkt schon im Titel auftaucht. Die Rezension läßt das völlig außer acht und überhaupt jedes Konzept vermissen. Sie beschränkt sich, von dem unseriösen Ton einmal abgesehen, auf unzusammenhängende Mäkeleien. Da ist Kleingeisterei am Werk. Das ist schade, aber damit muß ein Autor leben, denn nicht jedem ist es ja gegeben, das Rezensieren zu einer sinnvollen, aufbauenden Kunst, zum geistigen Dialog zu machen. Wogegen ein Autor sich allerdings verwahren muß, sind Irrtümer, Entstellungen und unbegründete Ablehnung, wie sie Giels Besprechung enthält:
1. Giel wirft mir "stilistisch-semantische Ungereimtheiten" vor und zitiert als Beispiel u.a. den Satz: "Der Zauber seiner Romane beruht nicht zuletzt auf der Fülle der darin geschilderten... Frauen." Aber wie heißt mein Satz in Wirklichkeit? "Der Zauber seiner Romane beruht nicht zuletzt auf der Fülle der darin geschilderten tapferen, rührenden, klaglos leidenden, menschlich erschütterten Ehefrauen, Liebhaberinnen und geschiedenen Frauen." Wo ist da die stilistisch-semantische Ungereimtheit? Giel selbst hat sie erst durch Verstümmelung meines Satzes geschaffen. Das hat mit wissenschaftlicher Kritik nichts zu tun.
2. Giel behauptet, ich hätte Grete Minde und Ellernklipp "schlankweg in die Nähe des Butzenscheiben-Historismus" gerückt. Aber Giel kann schlankweg nicht lesen, denn meine Formulierung heißt: "Die davor (vor Schach von Wuthenown und L´Adultera ) liegenden historisch-balladesken Erzählunge zeigen nur Ansätze einer gesellschaftlichen Durchdringung des Stoffes und sind nicht frei von Butzenscheiben-Historismus. Aber sie erproben prekäre Frauengestalten, die Languissant-Verführerische und die gesellschaftlich geächtete Sünderin, und machen schon das genau beobachtete Milieu zum unlösbaren Teil der Figuren." Will Giel dieses, wie es sich in einem Handbuchartikel doch gehört, balanzierte Urteil wirklich bestreiten? Und wie?
3. Giel bemängelt, "Auf das einzelne Werk läßt sich Grawe so gut wie gar nicht ein, (...)." Aber das ist eindeutig falsch. Auf S. 142 Ellernklipp, auf S. 143,144 Effi Briest, auf 145 fast eine ganze Seite über Vor dem Sturm, auf S. 146 Schach von Wuthenow, auf S. 147 Frau Jenny Treibel, Irrungen, Wirrungen, Die Poggen- puhls und Der Stechlin. So dient von den neun Seiten, die sich aus den insgesamt 22 1/2 Seiten mit den Romanen beschäftigen, etwa die Hälfte verschiedenen Aspekten einzelner Romane. 131