Heft 
(2023) 115
Seite
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Theodor Wolff über Theodor Fontane  Rasch 15 Jenny Treibels bestens, bestens auch den so überaus sorgfältig und lebens­nah ausgemalten lokalen Hintergrund des Romans. Fontanes enge Verbun­denheit mit Berlin rangiert in seiner Rezension an vorderster Stelle. Wolff betont Fontane als erfahrenen Kenner städtischer Kultur und ihrer Ge­schichte, als Vertreter einer Generation, die den Wandel Berlins von der stillen biedermeierlich-preußischen Residenz zur tosenden Großstadtme­tropole des Reiches selbst durchlebt hat. Damit ist Fontane für Wolff neben seinen enormen künstlerischen Qualitäten prädestiniert für den seit den 1880er-Jahren in Mode gekommenen Berlin -Roman. 31 Schon in seinem Ge­burtstagsartikel hatte er mit Blick auf Irrungen, Wirrungen geschrieben: Theodor Fontanes scharfer Blick hat das moderne Leben und speziell das Leben der Mark und das Leben Berlins begriffen. Er hat das Herz dieser Menschen erkannt und ihren Geist geprüft. Und aus der gewon­nenen Erkenntniß heraus bildete er seine Menschen. Es sind keine Heiligen und keine Teufel, keine Helden und keine Narren, keine Romeos und keine Posas, es sind Menschen der Jetztzeit, mit guten Gefühlen wie mit bösen, aber zumeist halbe Charaktere, wie sie in der modernen Großstadt am häufigsten sind. Die Leidenschaft schlägt nicht in Gluthflammen empor, verzehrend und niederreißend, sie ist nur ein Licht, das brennt und verlischt. Man sehe die Helden seiner gesellschaft­lichen Liebesgeschichten[]. Sie fühlen, aber fühlen sie wirklich so voll und tief, daß das Gefühl sie ganz umschließt und umklammert? Nein, das Außergewöhnliche ist ihnen fremd, es hat keinen Theil an ihnen, denn sie selbst sind nichts Außergewöhnliches, sie sind Menschen, le­bendige Menschen. Ihre Empfindungen gehen nur bis zu einer gewissen Tiefe es ist wie ein Holzstückchen, das man ins Wasser wirft und das nicht bis hinab auf den Boden zu kommen vermag. 32 Ähnliches ließe sich auch über die Figuren in Frau Jenny Treibel sagen, mit dem Fontane an Irrungen, Wirrungen anknüpft. Denn abermals gelingt es dem Autor, wie Wolff in seiner Frau Jenny Treibel-Besprechung hervorhebt, auf einzigartige Weise,»die eigentliche berlinische Seele« zu schildern. Für Wolffs Besprechung hat sich Fontane offenbar nicht bedankt, ob­wohl er auf Rezensionen seiner Werke bekanntlich sogleich mit ein paar Zeilen reagierte. Doch im Falle von Frau Jenny Treibel sind, wie Tobias Witt feststellt, fast keine Danksagungen überliefert:»Entweder sagten ihm viele der Besprechungen nicht zu, oder die entsprechenden Dankschreiben ha­ben sich nicht erhalten.« 33 Möglicherweise hängt dieser Umstand aber auch mit den Nachwirkungen seiner schweren Depressionserkrankung 1892/93 zusammen, auf die Wolff im letzten Absatz seiner Rezension sachte an­spielt.