20 Fontane Blätter 115 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes »Frau Jenny Treibel .« Bei Sommers Anfang hieß es eines Tages in den Zeitungen, Theodor Fonta ne wolle Berlin verlassen und nach Schlesien auswandern. Solch ein Unsinn! Glaubte wirklich Jemand im Ernst, daß der Alte seiner und unserer vielgeliebten Stadt die Freundschaft kündigen könnte? Ein paar Tage, ehe jene Notiz in die Blätter kam, hatte ich ihn in der Flottwellstraße getroffen. Drüben auf den hochliegenden Geleisen der Potsdamer Bahn rangirten pfeifend und pustend die Züge. Es war Nachmittag. Da kam der Alte mir entgegen, das blaugrüne Plaidtuch wie immer lose auf die Schultern gelegt, und noch ganz hübsch aufrecht, viel jünger als die ganze junge Welt um ihn herum. Wir schüttelten uns die Hände, und es kann sein, daß ich roth wurde wie ein Liebhaber, denn Theodor Fontane ist eine meiner erklärten Lieben. Carl Werder ist die andere. Dann erzählte mir der Alte, daß er nach Schneidemühl wolle. Er sehnte sich ein wenig nach Ruhe und nach guter Luft, was besonders hier, in der Flottwellstraße, wo der Lokomotivenrauch sich wie Hexenschleier vor das bischen Sonne legte, nicht eben zu verübeln war. Aber er hatte eine ganz schreckliche Angst vor den Unbequemlichkeiten eines schlechten Fremdenquartiers. Eine ganze Golgathageschichte erzählte er von Spielhagen, der einmal – ich weiß nicht mehr wo und wann – in einem solchen Quartier die Leiden aller Märtyrer der heiligen Kirche erdulden mußte. Und nun hätte dieser Dreiundsiebzigjährige fortziehen sollen in die ungewisse Fremde – dauernd fortziehen aus seinem Berlin und aus seinem alten Heim in der Potsdamerst[r]aße – diesem Hause, in das er so hineinpaßt – dem Hause mit der altberlinischen Einfachheit, mit dem Johanniterschild an dem Balkon über der Hausthür –? Solch ein Unsinn! Wie man nur daran glauben konnte! Ich kenne Keinen und ich meine, es giebt auch Keinen, der so sehr Berli ner ist, wie er. Und ich glaube beinahe, man muß Berliner , oder doch Märker sein, um seine Werke bis auf den letzten Grund verstehen und all ihre Schönheit auskosten zu können.»Irrungen, Wirrungen« – für mich der allerbeste, allerwunderbarste deutsche Roman – und jetzt wieder[»]Frau Jenny Treibel«(F. Fontane u. Co, Berlin ) haben solche Tiefen, die nur der Berliner , oder doch der Berlin -Kenner aufspürt. Alles, was die Anderen geschrieben haben – Alexis ist vielleicht auszunehmen, aber der schilderte ein vergangenes Berlin – hat von solchen verborgenen Geheimnissen nichts. Da soll das»Lokalkolorit« durch Einführung von Straßennamen, Proletariermassen und Kneiphöhlen geschaffen werden; bei Fontane ersteht es von selbst, ungezwungen, natürlich, indem die S e e l e des Berlinerthums auflebt. Das ist der Witz. Und so muß der Berliner Roman beschaffen sein: wenn wir ihn vor uns haben, am Abend bei der Lampe, oder am Nachmittag am Fenster – dann
Heft  
(2023) 115
Seite
20
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