Theodor Wolff über Theodor Fontane Rasch 21 müssen wir gezwungen sein, ja, g e z w u n g e n, in die Höhe zu springen und meinetwegen mit irgend einem heiligen Fluch, glücklich wie Columbus vor der Küste Amerikas , zu rufen: so sind sie! So sind sie. Gerade so. Jede dieser Frau Jenny Treibels ist so. Eine geborene Bürstenbinder, aus dem Apfelsinenkeller. Schon in frühester Jugend mit einem Hang für das Sentimentale, mit einer besonderen Schwärmerei für Herwegh.»Meine Mutter sagte:»Lies es nur, Jenny; der König hat es auch gelesen, und Herwegh war sogar bei ihm in Charlottenburg , und die besseren Klassen lesen es alle.« Dabei immer mit einer gewissen Sehnsucht, auch einmal zu diesen verehrten»besseren Klassen« zu gehören. Mit einem Wort: kostbar in ihrem Hang zu allen trivialen Sentimentalitäten und ihrem stark entwickelten Sinn für das Praktische. Und schon in diesem Gemisch haben wir die eigentliche berlinische Seele. So offenbart sie sich in tausend kleinen Liebesgeschichten, noch mit einem Zusatz von jener leichten Oberflächlichkeit, die Fontane so wunderbar wiedergiebt, so offenbart sie sich tagtäglich und noch am späten Abend, wenn über das schwarze Spreewasser bei Treptow die kleinen Kähne hingleiten und die stille Luft ganz angefüllt ist von den klagenden Liedern Heinrich Heines und Thomas Koschats. Auch Fanny[sic!] Bürstenbinder liebte in ihren Jugendjahren und sang rührende, sehnsuchtsvolle Lieder. Sie liebte den jungen Studenten Willi bald Schmidt , und als er ihr eines Tages sein Lied brachte, warf sie sich ihm an die Brust und sagte:»Willibald, Einziger, das kommt von Gott .« Einige Zeit darauf siegte dann wieder der praktische Sinn, und Fanny ward nicht Frau Schmidt, sondern Frau Treibel , was ihr später sogar das Recht gab, auf ihre Visitenkarten drucken zu lassen:»Frau Kommerzienrath Treibel«. Und nun ist sie»der Typus einer Bourgeoise«. Sie singt noch immer ihres Freundes, des Professor Willibald Schmidt , altes Lied: »Ach, nur das, nur das ist Leben, Wo sich Herz zum Herzen findet«, sie redet sich in ganz sentimentalen Stunden sogar ein, sie sei nicht glücklich in ihrem Reichthum, und möchte mit der armen Plätterin tauschen, oder mit einem Wesen, das geliebt wird – so mit der höheren Liebe geliebt – und dann tritt sie ganz energisch dazwischen, als ihr sanfter Sohn Leopold die mit keinen besonderen Baarmitteln ausgerüstete Tochter des Professors heirathen möchte:»So geht das nicht in unsern Häusern. Das mag beim Theater so sein oder vielleicht auch bei Kunst und Wissenschaft –«. O, so sind sie! Das ist die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie mit dem Sinn für’s Höhere und den»Stehthränen«, die doch eigentlich nur ein Herz hat »für Alles, was ins Gewicht fällt und Zins trägt« –»für das Ponderable«. Und die Andern! Der Kommerzienrath, der ein guter Kerl ist, sich aber in Teupitz -Zossen wählen lassen will, konservativ, weil das Konservative »besser kleidet«, als das Fortschrittliche. Dieser solide, behäbige, reich und
Heft  
(2023) 115
Seite
21
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