Allerlei Glück Wege 93 macht. 26 Als die bereits sterbenskranke Effi in ihr Elternhaus nach HohenCremmen zurückkehrt, kann sie sich dort, am Ort ihrer glücklichen wilden Kindheit, noch einmal»glücklich« fühlen, was die Mutter auf Genesung hoffen lässt: Vielleicht fände sich ein neues Glück, denn:»[E]s giebt Gott sei Dank viele Arten von Glück«, glaubt Luise Briest. 27 Doch dafür ist es zu spät; der von Allerlei Glück her vertraute Zweckoptimismus bewahrheitet sich nicht, denn die erforderliche Passgenauigkeit hinsichtlich der inneren sündhaften(willens- beziehungsweise triebbejahenden) Natur – von Liebe ist nicht die Rede – erlebte Effi nun einmal mit dem Liebhaber Crampas. Fontanes optimistischer Glücksbegriff im frühen Fragment unterscheidet sich also ganz wesentlich von dem des Romans, und doch ist der Glücksbegriff auch in Effi Briest schopenhauerianischer, diesemal aber pessimistischer Prägung. Effis Glücksanspruch scheitert, weil sie mit Innstetten das Glück darin sucht, was man hat(Reichtum) und was man vorstellt(sozialer Aufstieg, soziale Stellung). Sie findet in der Ehe kein Glück, weil sie im Gegensatz zur Mutter charakterlich, ihrem Sein nach, nicht zu Innstetten und zur Lebensweise in Kessin passt, ihrer Natur nach aber zum Luftikus Crampas. Effi stirbt, und mit ihr erklärt auch Fontane die Hoffnung auf Glück als gescheitert, als Chimäre. Ebenso Innstetten: Er sucht sein Glück in Vorstellungen von Ehre – zur Erinnerung: Ehre fällt bei Schopenhauer in die Kategorie der glücksverheißenden Vorstellung. 28 Die Eudämonologie der Aphorismen reicht als Kontext demnach nicht hin, um den Wandel der Glückskonzeption vom frühen Fragment bis hin zu Effi Briest zu erklären; entscheidend ist der Pessimismus im Hinblick auf Lebensglück in Schopenhauers Hauptwerk: Daß alles Glück nur negativer, nicht positiver Natur ist, daß es eben nicht dauerhafte Befriedigung und Beglückung seyn kann, sondern immer nur von einem Schmerz und Mangel erlöst, auf welchen entweder neuer Schmerz und neue, oder auch langour, leeres Sehnen und Langeweile folgen muß; dies findet einen Beleg auch in jenem treuen Spiegel des Wesens der Welt und des Lebens, in der Kunst, besonders in der Poesie. Jede epische, oder dramatische Dichtung nämlich kann immer nur ein Ringen, Streben und Kämpfen um Glück, nie aber das bleibende und vollendete Glück selbst darstellen. 29 Dass Fontane Sehnsucht und Langeweile im Roman explizit als Motivation für den Ehebruch und als Effis Charaktermerkmale ausweist, spricht ebenfalls für den Einfluss Schopenhauers auf die Glücksthematik in diesem und in anderen Werken(besonders auch in Cécile). Zweifelsohne geht es in vielen Werken Fontanes ganz zentral um jenes von Schopenhauer beschriebene»Ringen, Streben, Kämpfen um Glück«.
Heft  
(2023) 115
Seite
93
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