100 Fontane Blätter 115 Dossier: Fontanes Fragmente. Fortsetzung sion des Themenkomplexes ›Preußen‹ in den veröffentlichten Werken liefert. Unter den zahlreichen Figurenentwürfen des Projekts befindet sich ein »Büchsenschmidt«(wahrscheinlich Büchsenmacher, Waffenhersteller), den Fontane wie folgt konzipiert:»Mittelalterliches Bürgerthum. Kantianismus. Haß gegen den modernen Schopenhauerianismus, der die Charakter schlapp macht. ›Wenn alles nichts taugt, wozu noch gut sein.‹«(F I, 106) In einem anderen Entwurf trägt eine Figur den Namen Alexander Zembusch und wird als»[b]ürgerlicher Pflicht=Mensch« bezeichnet(F I, 107). Womöglich wollte Fontane den Kantianer Zembusch und den Schopenhauerianer Brah kontrastierend anordnen:»Der alte Brah auch was Darwinistisches. [...] Eine Hauptschwierigkeit ist die Einrangierung des Schlossermeisters und Büchsenschmidt.«(F I, 165) Der Kantianismus bei Fontane – eng verknüpft mit dem Begriff der Pflicht, der den Kern des preußischen Charaktertypus in den Romanen bildet – lässt sich ohne den Schopenhauerianismus kaum vollständig verstehen. Schopenhauer baut auf Kants Erkenntnistheorie auf, richtet sich aber zugleich dezidiert gegen dessen Morallehre, eine in Schopenhauers Augen kaltherzige Ethik des Sollens, welche sich auf einen rein äußerlichen und damit falschen kategorischen Imperativ der Pflicht beruft. Diesem setzt Schopenhauer eine Ethik des Inneren, des Seins(der Natur des Willens, siehe oben) und des Mitleids entgegen: Die buddhistische Grundformel der schopenhauerschen Ethik lautet, dass der Mensch sich selbst, das eigene Sein, das heißt auch seinen eigenen sündhaften, triebhaften Willen, im Anderen, im Gegenüber, wiedererkennen solle( Tat-twam asi – ›ich bin wie du‹). Auf Basis der Erkenntnis des Ichs im Anderen könne das Ich Mitleid mit Mitmenschen empfinden, welche, wie das eigene Ich, unter der Macht des Willens zu leiden hätten. Dass der bürgerliche Pflichtmensch Zembusch und mit ihm der mitleidlose Kantianismus bei Fontane nicht gut wegkommt, deutet sich in der kurzen Beschreibung allenfalls an, lässt sich aber aus dem Kontext rekonstruieren; man denke an Adolf Gustav Schulz, die Karikatur eines Musterpreußen im Fragment Die preußische Idee, oder an den mitleidlosen, kalten, pflichtversessenen Innstetten in Effi Briest. Mit dem Vorwurf der»Schlappheit« des Schopenhauerianismus ist die Mitleidsethik gemeint, aber auch der pessimistische Rückschluss, dass eine rein äußerliche Moral, und mit ihr Vernunft, Ratio, Imperativ, Pflicht, gegenüber einem Überschuss an willensbedingter triebhafter Natur des individuellen Charakters nur wenig auszurichten vermag. 52 Der»Hass« des Kantianers resultiert somit aus einer Kränkung durch die Absage des Schopenhauerianismus an das Moral-, Vernunft- und Pflichtideal, das den Kern preußischer Identität bildet und das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein des Bürgertums jener Epoche prägte.
Heft  
(2023) 115
Seite
100
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