Allerlei Glück Wege 99 mene Merkmal der Amoral und Triebhaftigkeit wieder auf, durch das sich bereits vor Generationen die entfernte schwedische Linie der Familie Brahe einen gewissen Ruf erworben hatte. Warum könnte sich der Schopenhauerianer Wiesike für Darwin begeistert haben? Vermutlich aus dem gleichen Grund, warum sich Darwin für Schopenhauer erwärmte. Darwin hat Schopenhauer nachweislich gelesen und Ähnlichkeiten zwischen seiner Lehre und Schopenhauers Philosophie hinsichtlich der Erblichkeit von Eigenschaften wohlwollend kommentiert. Umgekehrt spricht die Schopenhauer-Forschung dem Philosophen eine Vorreiter-Rolle hinsichtlich seiner Ideen zur Vererbung zu. 51 Ein konkretere inhaltliche Übereinstimmung zwischen Darwinismus und Willensmetaphysik, besonders in der Metaphysik der Geschlechtsliebe, besteht darin, dass laut Schopenhauer die psychische/charakterliche Anlage zur Bejahung des Willens – gleichzusetzen mit Lebenskraft und Triebhaftigkeit, wie oben erörtert auch Sünde und Erbsünde im christlichen Sinne – als naturgegeben, vorbestimmt, unabänderlich und sogar explizit erblich ausgegeben wird. Diese Überzeugung ist ein Bestandteil des pessimistischen Menschenbildes der Willensmetaphysik: Der Mensch muss immer wieder in Willensbejahung ›zurückfallen‹. Seine amoralische, ›sündhafte‹ Natur, der Wille in ihm, lässt sich nicht dauerhaft unterdrücken; er setzt sich gegen Vorstellungen (moralische Ideale, Ratio, Vernunft) durch; eine Höherentwicklung der Gattung Mensch, auch im Sinne von rationaler Aufklärung, kann auf Dauer nicht gelingen – eine Erkenntnis, die allerdings, wie Schopenhauer betont, keineswegs ein Freifahrtschein für antimoralisches Verhalten sein dürfe. Für den Plot des Fragments bedeutet dies: Die triebhafte geschlechtliche Willensbejahung, der Rückschlag in Amoral in den Familien Brah und Brahe, wird von Wiesike, alias Torfinspektor Brah, als angeborener atavistischer Kern des Menschseins gedeutet. Dies wirft nun wiederum auch ein etwas anderes Bild auf die eingangs diskutierte Glücksdefinition von Heinrich Brose: Die Verortung von Moral im Inneren, der Natur des Menschen und die resultierende Einsicht, dass Glück nicht mit äußerlicher, öffentlicher Moral, sondern allenfalls mit dem Zusammenpassen von mehr oder weniger moralischem Charakter und individueller Lebensweise korreliert, könnte sich auch aus dem soeben erörterten willensphilosophischen Verständnis von amoralischem Atavismus speisen. Nach wie vor erscheint der Katholizismus der anderen Figuren im Fragment auch in diesem Zusammenhang als Weg, den atavistischen Willen zumindest in gewisse Schranken zu weisen. Kant versus Schopenhauer Abschließend eine einordnende Bemerkung zu einer vereinzelt wirkenden Textstelle im Fragment, die jedoch Hinweise auf die philosophische Dimen-
Heft  
(2023) 115
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99
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