Heft 
(2023) 115
Seite
107
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Entzweite Moderne, durchschaute Ambivalenz  Rottmann 107 hen hat, bestimmte Themen in der Form des Essays, der stärker zum unmit­telbaren Ausdruck und faktualem Sprechen anhält, auszuführen. Der Prozess von der Beobachtung der realen Lebenswelt zur fiktional gebundenen Inszenierung einer möglichen Welt lässt sich besonders auf­schlussreich an jenen Fragmenten Fontanes nachweisen, in denen die Spu­ren dieser Arbeit oder Erarbeitung(noch) sichtbar sind. Insoweit Fragmen­te in statu nascendi verblieben sind und sich, weil ein Sinngefüge noch nicht fixiert worden ist, eindeutiger Auslegungen verweigern(können), besteht das Ziel nicht noch weniger als im Normalfall der Werkinterpretation in Vereindeutigungen. Vielmehr sollen Beschreibungen und Sondierungen die Deutungsmöglichkeiten eruieren. Insbesondere die reizvollen komposi­tionellen Reflexionen(wie:» Nicht der Schriftsteller muß dies sagen, sondern eine seiner Figuren[].« F I, 177), Autorkommentare(wie:» Dies alles hübsch ausführen und ausmalen.« F I, 177) oder leitmotivische Zitate(wie:»[] Ich erzähle eine Beobachtung, ein Erlebniß nichts weiter.« F I, 177) 8 machen darauf aufmerksam, dass alle Fragmente nicht das Sigel fixierter Werkför­migkeit tragen. Renate Böschenstein hat die These dieses Beitrags durch eine Beobach­tung angeregt, in der sie die Relevanz der Fragmente mit dem Problem der Ambivalenz verbindet:»Fontane beschreibt nicht nur jene charakteristi­sche Doppelheit der Perspektive, für welche die Formel ›Ambivalenz‹ geläu­fig geworden ist: er forscht nach ihren Gründen, ohne die Frage zu beant­worten[].« 9 Von einer konkreten Textbeobachtung ausgehend, fasst Böschenstein den spezifischen Anspruch des Literaten Fontane konzise zusammen: ›erkennen forschen darstellen‹. Der Ursprung liege immer, oder zumindest oft, in einer persönlichen Erfahrung. Deshalb stehe die Selbsterkenntnis am Anfang und motiviere zur ›Forschung‹. Beides wird schließlich Teil der Darstellung. Auch wenn das oft hemmende Einheitspos­tulat von Autorperson und Werkganzem mit dieser Beobachtung Böschen­steins aufrechterhalten wird, lässt sich die Überzeugungskraft des skizzier­ten Zusammenhangs kaum bestreiten. Denn sie verweist auf die Regel der Produktivität Fontanes: Nicht die wissenschaftliche Beantwortung einer ›Frage‹, wie man sie von Historikern oder Soziologen erwarten würde, steht in Aussicht, sondern eine ausgestellte, insofern immer nachvollzieh­bare»Selbsterforschung« des Individuums. Diese wird durch ›Beschrei­bung‹, d.h. mittels Fiktionalisierung und Komposition, objektiviert und so vom ›Nur-Persönlichen‹ gelöst.»Selbsterforschung« mündet deshalb nicht in Begriffen und Argumenten, sondern wird durch jene Möglichkeiten re­alisiert, die literarisches Erzählen, essayistisches Schreiben oder briefli­ches Mitteilen bereitstellen: Subjektivität und Perspektivität, Spontanität und Pointe, Verkürzung und Zuspitzung. Die Regelmäßigkeit der»Selbster­forschung« erweise sich, so Böschenstein, in der»ganze[n] Produktion« Fontanes. Neben den genannten Formen kommen sämtliche Gattungen und