Heft 
(2023) 115
Seite
108
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108 Fontane Blätter 115 Dossier: Fontanes Fragmente. Fortsetzung Genres in Betracht: Gedicht, Fragment, Skizze, Kritik, Kriegsbuch, u. a. m. In diesem Text-»›Netzwerk‹« lassen sich»prägnante Motive und Reflexionen [finden]«, die»einander beleuchten« oder als»selbständige Einheiten« gele­sen werden können. Man kann die Anfangsgründe dieser Technik in Fonta­nes journalistischer Arbeitsweise sehen. In jedem Fall bezeugen die verar­beiteten Realitätsschnipsel(z.B. Zeitungsartikel, Exzerpte) in Fontanes Notizbüchern ein Textverfahren, mit dem eine Fiktionalisierung des Fakti­schen vollzogen wird. 3. Ambivalenz und Judentum In der Auseinandersetzung mit Konzepten zu Fontanes ›Ambivalenz‹ wird allerdings auch eine missliche Indifferenz erkennbar ein gemachter Wi­derspruch, der dem Autor keineswegs selbst anzulasten ist, sondern seinen Interpreten. Sie meinen nämlich: Einerseits habe Fontane durch sein intel­lektuelles Vermögen real existierende Mehrdeutigkeiten ›gesehen‹, ›verstan­den‹ und raffiniert ›dargestellt‹, andererseits habe er sich in der Behandlung bestimmter politischer Fragen hoffnungslos ›in Ambivalenzen verfangen‹. Einerseits sei er souverän, skeptisch und schöpferisch, andererseits sei er doch bloß ein ›Kind seiner Zeit‹ gewesen, wobei die im ersten Fall geltenden Kompetenzen im zweiten Fall außer Kraft getreten seien. Die gravierendste Verzeichnung Fontanescher ›Ambivalenz‹, die den Begriff an die Grenze seiner Brauchbarkeit geführt hat, besteht in der Ak­tivierung dieser Vokabel zum Zweck der Relativierung eines empfindlichen Mangels an konkreter politischer Urteilsfähigkeit und sozialer Empathie. Die Zuschreibung von ›Ambivalenz‹ scheint sich, in diesem zweiten Fall, nicht nur als summarische Kategorisierung unzähliger Stellungnahmen auf einen unverbindlichen gemeinsamen Nenner zu empfehlen, sondern auch als abschließende, zumeist lakonische Lösung des Problems:»Es gibt eine Seite, aber die andere gibt es auch[]«. 10 Nach Maßgabe dieser Unbe­stimmtheit meint man, sich der Zumutung eines eigenen Urteils enthalten zu können:»Fontanes Ambivalenz läßt auch hier kein eindeutiges Urteil zu.« 11 Gemeint ist hier, wie so oft, wenn von dieser politischen Ambivalenz des Autors die Rede ist, Fontanes Haltung zum Judentum und zu Personen seines unmittelbaren Lebensumfeldes, die er vor allem als Jüdinnen und Juden, aber nur ausnahmsweise schlicht als deutsche Mitbürger betrachten wollte. Wie so viele Deutungseliten seit der Aufklärung hat auch Fontane selbst, und nicht nur sein literarisches Personal, Judentum und ›Moderni­tät‹ miteinander identifiziert. Er hat eine Haltung eingenommen, aus der heraus gesellschaftlicher Wandel und Modernisierungseffekte fortwäh­rend mit der sozialen, kulturellen und politischen Rolle der deutschen Juden in Verbindung gebracht und erklärt wurden. Für Fontane waren Jüdinnen