Heft 
(2023) 115
Seite
110
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110 Fontane Blätter 115 Dossier: Fontanes Fragmente. Fortsetzung Einschlägige Grundeinstellungen lassen sich am Beispiel von Adel und Ju­denthum untersuchen. Darin werden, wie es Fontane schon 1855 in seiner berühmten Rezension von Gustav Freytags Roman Soll und Haben formu­liert,»zwei Faktoren der Gesellschaft« als»Gegensätze« verhandelt. 14 War­um aber sollen»Adel und Judentum«»Gegensätze«, wie kann es möglich und sinnvoll sein, ›die‹ Gesellschaft durch zwei sehr unterschiedliche Grup­pen zu stratifizieren? Mögliche Antworten auf diese Frage müssen, für sich genommen, keinesfalls zu negativen Einschätzungen führen. Denn unmög­lich oder falsch ist es ja keineswegs, soziale Mobilität und gesellschaftliche Veränderungen anhand dieser beiden Gruppen zu studieren. Es ist fraglos sinnvoll, den Verfasser des Fragments zunächst als»sensiblen Beobachter dieser Gesellschaft« zu charakterisieren; als einen Beobachter, der»ent­deckt[hatte], daß sich mit seiner Stadt etwas veränderte[].« 15 Man wird außerdem bereitwillig zugeben, dass Fontanes Fragment einen Anspruch auf Empirie vertritt, zumal er selbst gegen Freytag reklamiert hatte,»poeti­sche Gerechtigkeit« dürfe bei der»Schilderung des echten Adels« nicht man­gelhaft sein, sondern müsse sich an»Gerechtigkeit überhaupt«(d.i.: histori­sche Wahrheit) messen lassen. 16 Zudem wird man darin übereinstimmen können, dass in Betrachtungen zum Gesellschaftswandel strukturelle Ent­wicklungen im Judentum(Emanzipation, Verbürgerlichung) im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft einbezogen werden sollten. Auch hier formuliert Fontane gegenüber Freytag einen markanten Maßstab, wenn er nämlich entscheiden zu können meint, welche(literarisch stilisierten)»Juden[] ein Recht hätten, sich die Repräsentanten des Judentums zu nennen.« 17 Dennoch bleiben entscheidende Fragen unerörtert und deshalb in Kraft: Wie setzt Fontane überhaupt an, welche Kriterien werden bemüht, wo und wie wird ›das Gegebene‹ bewertet? Wie wird die Existenz jüdischen Lebens zum The­ma eines Gesellschaftsromans gemacht? Im Folgenden soll diesen Fragen durch eine Auseinandersetzung mit Fontanes fragmentarisch überlieferter ›märkischer Novelle‹ Storch von Adebar nachgegangen werden. Die bereits zitierten Fragmente Die Juden in unserer Gesellschaft und Adel und Juden­thum werden punktuell herangezogen. 4. Moderne und Ambivalenz in Fontanes Storch von Adebar Durch genuine Ambivalenz gekennzeichnet ist die Haltung der Baronin ­Cesarine von Storch. Die Baronin ist eine der wesentlichen Figuren in Fon­tanes Novellenfragment Storch von Adebar, das in den Jahren 1881 und 1882 begonnen und schließlich abgebrochen wurde. Der Entwurf war al­lerdings so weit fortgeschritten, dass sich grundlegende Konflikte analysie­ren lassen. Die Storchs sehen sich zunächst mit der Möglichkeit konfron­tiert, Brachland im Familienbesitz könnte durch die Errichtung eines