Entzweite Moderne, durchschaute Ambivalenz Rottmann 111 Kanals fruchtbar und mithilfe der Verlängerung einer Bahntrasse wirtschaftlich nutzbar gemacht werden. Auch wenn die Familie die dadurch in Aussicht stehenden»Geldsachen« dringend benötigen würde, fällt es der Baronin schwer, diesen Wechsel positiv zu verbuchen: Und nun frag ich Dich, Storch, sind wir noch dieselben, wenn man uns die Bahn bis an den See Forst führt und| uns Erlaubniß giebt, den Canal zu graben, der dann aus dem See und dem Luch in die Havel führt. Ist dann diese Sandwüste noch dieselbe? Was jetzt halb werthlos hier liegt, das ist dann ein Werth,[…] schon von dem Augenblick an, wo nur bekannt wird, daß die Bahn und der Canal zugestanden bewilligt und ihre Ausführung gesichert ist, von dem Augenblick an ist diese Sand= und Sumpf-Wüste in ihrem Werthe verdoppelt und wir haben in Geldsachen freie Bewegung.(F I, 205) 18 Kommt die Rede auf»Geldsachen«, so springen die Gedanken der ›Störchin‹ bruchlos – zur»Judenwelt«(F I, 205). Wenn es um»Mittel, Mittel« geht, sieht die Baronin sogleich eine ›Gefahr‹, die auf ein weitverbreitetes antisemitisches Stereotyp referenziert und höchst eigenwillig mit der konkret eigenen Situation verquickt wird. Sie spricht es ausdrücklich aus: Der»Judengott – er ist das Geld an sich, die Beugung vor dem Golde, blos weil es Gold ist[…].« Wie erklärt sich dieser eigentümliche Gedankensprung? In der Diktion der Baronin heißt es: Mittel, Mittel. Worin liegt denn die Macht dieser Judenwelt? In ihren Mitteln. Dies| müssen wir erkennen und davon lernen. Du weißt wie hoch ich Abstammung stelle, aber ohne Mittel wird es Donquichoterie.| Freie Bewegung, wie sie die Juden haben. Von ihnen uns zu emancipiren, darauf kommt es an. Mittel haben, die höchsten Zwecken dienen und nicht dazu da sind, falsche Götter zu etabliren, darauf kommt es an. Am meisten haß ich den Judengott – er ist das Geld an sich, die Beugung vor dem Golde, blos weil es Gold ist.| Ich hasse den| Mammonsdienst und den Götzendienst vor dem goldenen Kalbe[…].(F I, 205) Die Haltung der Baronin, dieser Transfer von der Aushandlung eigener wirtschaftlicher Möglichkeiten zu einer unvermittelt ausbrechenden und buchstäblich mit Hass unterlegten Tirade gegen die»Judenwelt«, ist symptomatisch angelegt. Vergleichsweise harmlose Modernisierungseffekte, ein moderater Strukturwandel, der einer vielfältig bedrängten ›alten Familie‹ obendrein das wirtschaftliche Überleben zumindest auf Zeit garantieren könnte, erzeugt einen diffusen Identitätskonflikt, zu dessen affektiver Bewältigung(oder Aufladung?) ein detailliert konstruiertes Feindbild eingesetzt wird: das zeitgenössische Judentum und dessen vorgebliche Fixierung auf Geld ›ohne Werte‹. Das gedankliche Konstrukt der Baronin reicht von der Frage, ob»wir noch dieselben« wären, hielte dieser Fortschritt Einzug, bis hin zur Identifikation von Fortschritt und Geld mit der»Judenwelt« und deren»Macht«. Diese»Macht« hatte Fontane in seinem Essayfragment Adel
Heft  
(2023) 115
Seite
111
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