Heft 
(2023) 115
Seite
117
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Entzweite Moderne, durchschaute Ambivalenz  Rottmann 117 übertragen. Das ›Neue‹ soll deshalb fragil erscheinen, weil ihm die Festig­keit von Tradition, Überprüfbarkeit und Routine fehle und deshalb»den Staat« nicht erhalten und definieren könne. Manöver, die ›das Alte‹ irgend­wie zu erhalten suchen und ›das Neue‹ verdrängen oder diskreditieren, sind dem aufsteigenden Bildungs- und Besitzbürgertum indes fremd. Ihr Auf­stiegsglück repräsentiert das bürgerliche Personal der Novelle eindrück­lich. Den dazu passenden ›empirischen Beweis‹ hat Fontane durch eine Zei­tungsmeldung dokumentiert und konserviert: Das Jahreseinkommen des Verlegers James Gordon Bennett jr., Besitzer des New York Herald, belaufe sich auf 750.000 bis 800.000 Dollar; das war eine astronomische Summe, die es ihm ermöglichte, ganz nebenbei»eine neue Dampfyacht[zu] bauen, wel­che das größte und zugleich das schnellste Fahrzeug dieser Art in der Welt werden soll.«(F I, 185) Während der ›Storch‹ in»seiner Geldnoth« und»eh die reiche Partie des Sohnes ihn herausreißt«, seinen[!]»reichen Pächter« anpumpen muss und mit diesem Versuch kläglich scheitert(F I, 184), leben die Bürger sorgenfreier: Justizräte, Konsistorialräte, Ministerdirektoren, aber auch Apotheker, Chirurgen, Pastoren sowie Müller, Weber und Tuch­macher, sie alle müssen keinen alten, teuren Besitz erhalten, sondern haben ihre eigene»Wirksamkeit in der Stadt« entfaltet und sich»namhaft« ge­macht(F I, 180). 23 5. Ambivalenz und Judentum in Fontanes Storch von Adebar Die Baronin kennzeichnet eine tiefsitzende Ambivalenz, die in der Bewer­tung alltäglicher Gegebenheiten zum Ausdruck gebracht wird; hier werden Verknüpfungen hergestellt, große Ereignisse wertend entzweit, indem sie mit höchst eigenwilligen Kriterien nach zweierlei Maß gemessen werden: Einerseits sei Geld gut und wichtig, um den eigenen Status zu erhalten; an­dererseits laufe man im Umgang mit Geld immerzu Gefahr, solche Verhal­tensweisen zu praktizieren und Haltungen einzunehmen, die die Storchs einmütig für ›jüdisch‹ halten. Die der Baronin zugeschriebene Variante von Ambivalenz fällt jedoch anders aus als beim alten Storch: Er ist gespalten in der Beurteilung ein und desselben Phänomens. Fontane hat sich wiederholt notiert, diese Haltung durch Redeeinsätze und Handlungen extrapolieren zu wollen:»Neue Verwirrung. Ungleichheit in seinem Wesen. Beständige Widersprüche«(F I, 197), oder:»Er sprach mal liberal und human,­[] aber dann kam der Trebiatinskische Katechismus wieder zum Vorschein. Er wurde gepflegt. Und so starb er.«(F I, 226) Die herausstechende Eigen­schaft des Barons ist dessen»Confusion«(F I, 200, 202, 226), eine spezifi­sche Form der Verwirrung, die sich im Verlauf der geplanten Handlung immer markanter herausstellen sollte. Beobachtungen zur Entwicklung des