Heft 
(2023) 115
Seite
123
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Entzweite Moderne, durchschaute Ambivalenz  Rottmann 123 für plädieren, Fontanes Ambivalenz-Kompetenz nicht zu ›halbieren‹, son­dern als Maßstab heranzuführen, der schließlich auch die negativen Seiten seiner eigenen Deutungsmuster beleuchtet. 7. Coda Der Historiker Till van Rahden hat im Jahr 2001 zutreffend festgestellt, dass die Fontaneforschung nicht wisse, warum der Autor Adel und Judenthum in der Berliner Gesellschaft nicht veröffentlich habe, 27 respektive: nicht einmal fertig geschrieben hat. Van Rahden deutet dieses Fragment, wie die Mehr­heit der Interpreten, als»Eloge über die prominente Rolle des jüdischen Bürgertums in Berlin«. Die Beantwortung der von van Rahden gestellten Frage hängt wesentlich davon ab, ob das Fragment eine»Eloge« ist, werden sollte oder nicht. Was wäre das Gegenteil eine Schmährede, eine Verun­glimpfung? Der Entwurfscharakter des Textes macht es möglich, mehr als nur ein Argumentationsziel zu erwägen. Der Text ist in sich inkohärent, sodass einzelne Aussagen in die eine, andere in eine zweite Richtung wei­sen. Fontanes Problem könnte genau darin bestanden haben: Wenn es sich um einen argumentativen Text gehandelt hätte, dann wären die Positionen im Text seinem Autor unmittelbar zugerechnet worden. Nur wenige Mona­te nach einer positiven Meldung zum Arbeitsstand an Julius Grosser brach im Spätjahr 1879 der ›Berliner Antisemitismusstreit‹ aus. 28 Fontanes Aufsatz wäre sehr wahrscheinlich als Reaktion auf Stellungnahmen in die­sem diskursiven Rahmen aufgefasst worden. Fünf Monate ›vor Treitschke‹ ließ Fontane Grosser wissen, dass die»Bewältigung« der Aufsätze»zu schwierig« sei, das Thema außerdem»so ernst und so gut zugleich« sei, dass es nicht durch eine»flüchtige Behandlung« zu»verderben« sei. 29 Fontane hat schließlich nicht das Thema, sondern lediglich die Option aufgegeben, als Theodor Fontane publizistisch Stellung zu beziehen. Stellungnahmen finden sich in den Gesellschaftsromanen, in LAdultera, Die Poggenpuhls, Der Stechlin, Mathilde Möhring und in den Briefen.