Heft 
(2023) 115
Seite
122
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122 Fontane Blätter 115 Dossier: Fontanes Fragmente. Fortsetzung schon die ›gefühlte Moderne‹ zu begreifen, in unerträglichen Ambivalen­zen bahnbricht und er, nach dem Willen des Autors, an dieser Entzweiung zu Grunde geht, so gilt all das gerade nicht für Fontane selbst. Er ist es ja, der die Fäden durch ›Argumentationsweisen‹ in der Hand hält und sich, ohne jede Ohnmacht, zum ›Verunsicherungspotential‹ der Moderne verhält. Das kontinuierliche Interesse Fontanes lässt sich in den nachgelassenen Fragmenten nachweisen und entsprechend analysieren. Die Rekonstrukti­on dieses Netzes kann also die These abstützen helfen, dass Fontane die sog. ›Judenfrage‹ und ihre Dynamik nicht nur beobachtet und die Brisanz verstanden hat, sondern auch, dass er stets Herr über seine eigene Position zu dieser ›Frage‹ geblieben ist. Verhandeln oder Ringen vertragen sich schlecht mit Ambivalenz. Es sind Meinungskonflikte. Im Ergebnis steht damit eine Feststellung im Zentrum, die meines Er­achtens geeignet ist, eine Neubewertung des angeblich ›ambivalenten Ver­hältnisses‹ Fontanes zum Judentum anzuregen. Denn die Konzeption der Novelle Storch von Adebar macht deutlich, dass Fontane antisemitische Hal­tungen insofern verstanden hat, als er ihre Funktionalisierung und Einbrin­gung in übergreifende Weltanschauungskonzeptionen literarisch nachkon­struieren konnte. Diese Beherrschung widerspricht der Annahme, ja, es erscheint insgesamt wenig plausibel, dass Fontane seinem literarischen Per­sonal Haltungen zuschreiben könnte, während er vergleichbare Muster bei sich selbst ohne Souveränität gleichsam hilflos, unkontrolliert oder un­entschieden habe laufen lassen. An anderer Stelle wird zu diskutieren sein, ob und wenn ja, wie sich diese Feststellung auf Fontanes briefliche Äuße­rungen übertragen lässt. Fontanes Briefe sind die wichtigste Quelle für sein persönliches Verhältnis zu Jüdinnen und Juden sowie zum Judentum insge­samt. Doch auch für Aussagen in Briefen gilt meines Erachtens: Die ver­meintliche ›Ambivalenz‹ Fontanes ist immer erst nachträglich inszeniert worden, wenn nämlich eine Vielzahl von Brieftexten mit inkriminierten Aussagen nebeneinandergestellt wurden, die nur in der Zusammenschau eine Maximalforderung von Eindeutigkeit nicht genügen. Unter der Hand wird damit ein Kriterium ins Spiel gebracht, das nicht zu überzeugen ver­mag, denn: Warum sollte sich Fontane zu einem Sachverhalt, der zahlreiche Einzelphänomene inkorporiert, sich verändert, im Verlauf der zweiten Hälf­te des 19. Jahrhunderts immer aggressiver thematisiert und zur ›sozialen Frage‹ schlechthin stilisiert wird, fortlaufend kohärent äußern? Es ist nicht einzusehen, dass unterschiedliche Meinungsäußerungen dafür sprechen, der Kern vorgängiger Grundüberzeugungen sei instabil; allzu leicht wird übersehen, dass vermeintliche Widersprüche nicht konstitutiv sind, sondern sich als Resultate wechselnder Interessen oder Strategien identifizieren las­sen. Es bleibt dennoch fruchtbar, deskriptive Konzepte von Ambivalenz für Analysen von Fontanes Erzählen heranzuziehen. Allerdings möchte ich da-