Entzweite Moderne, durchschaute Ambivalenz Rottmann 121 Rebecca oder Rahel ⌐ oder Sarah ist eine reizende kleine Person, heiter, liebenswürdig, aber prononcirt jüdisch in ihrem Profil, vor allem auch in Haltung und Bewegung der Arme. Sie wußte das auch und scherzte darüber. Alles was der alte Storch an Liebenswürdigkeit hatte, kam jetzt heraus, er freute sich ihrer Heiterkeit, ihres Witzes, ihrer Unterhaltung, er langweilte sich weniger als früher, alles war anders, besser,| die Wirthschaft auf Nassenheide ging brillant, alles prosperirte, es war kein Zweifel – sie hatte Glück und Segen ins Haus gebracht. Aber er konnte doch nicht Drüber hinweg. Er wurde ganz irr, auch in seiner Rede.[…] Er lobte seine Schwiegertochter, lobte selbst das Jüdische, dann besann er sich plötzlich und wurde wieder feierlich und christlich und sprach von dem Gekreuzigten. Und so ging es| und wurd immer schlimmer. (F I, 200) 6. Zusammenfassung Nachdem am Beispiel des Novellenfragments herausgearbeitet werden konnte, wie penibel und konsequent Fontane geplant hatte, moderneskeptische Denkmuster in die weltanschaulichen Haltungen der beiden Storchs einzuarbeiten, die auf Wechsel reagieren, soll die zweite Deutungsebene Fontane’scher ›Ambivalenz‹ noch einmal bedacht werden. Es hat sich feststellen lassen, dass es Fontane gelungen ist, Ambivalenz in einem Novellenentwurf zum Thema zu machen. Im Ergebnis dieses Aufsatzes wird daher vorgeschlagen, Fontanes literarische Darstellung spezifischer Modernitätserfahrungen als durchschaute Ambivalenz, als Kompetenz also und nicht etwa als ›handicap‹, zu erfassen. Durchschaute Ambivalenz bezeichnet eine Fiktionskompetenz, die sich anhand von Fragmenten(wie der Novelle Storch von Adebar) deshalb studieren lässt, weil dort, im Unterschied zu vollendeten Texten, noch nicht gleichmäßig viel ›Durchschauung‹ auf das Erzählte fällt und durch den Erzähler gebrochen wird. So gesehen, fallen Fragmente hermeneutisch weniger komplex aus. 26 Einen in seine Erzählung verstrickten, möglichweise selbst mit Ambivalenzen ausgestatteten Erzähler hat Fontane erst für jenen Roman erschaffen, der aus dem Konzept des Storch von Adebar hervorgegangen ist: Der Stechlin(1897/98). Insofern Fontane Ambivalenzen durchschaut und sie deshalb in seinen Figuren symptomatisch so anlegen kann, dass sie zumeist ohne tiefere Einsichten irritiert, bisweilen sogar orientierungslos auf gesellschaftliche Wechsel sowie kulturelle Herausforderungen reagieren und affektive Antworten hervorbringen, die selten überzeugende, allenfalls pragmatische Lösungen enthalten, fallen seine eigenen Haltungen zwangsläufig in eine andere Kategorie. Während sich das Unvermögen des alten Barons, allein
Heft
(2023) 115
Seite
121
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