Heft 
(2023) 115
Seite
121
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Entzweite Moderne, durchschaute Ambivalenz  Rottmann 121 Rebecca oder Rahel oder Sarah­ ist eine reizende kleine Person, heiter, liebens­würdig, aber prononcirt jüdisch in ihrem Profil, vor allem auch in Hal­tung und Bewegung der Arme. Sie wußte das auch und scherzte darü­ber. Alles was der alte Storch an Liebenswürdigkeit hatte, kam jetzt he­raus, er freute sich ihrer Heiterkeit, ihres Witzes, ihrer Unterhaltung, er langweilte sich weniger als früher, alles war anders, besser,| die Wirth­schaft auf Nassenheide ging brillant, alles prosperirte, es war kein Zweifel sie hatte Glück und Segen ins Haus gebracht. Aber er konnte doch nicht Drüber hinweg. Er wurde ganz irr, auch in seiner Rede.[] Er lobte seine Schwiegertochter, lobte selbst das Jüdische, dann besann er sich plötzlich und wurde wieder feierlich und christlich und sprach von dem Gekreuzigten. Und so ging es| und wurd immer schlimmer. (F I, 200) 6. Zusammenfassung Nachdem am Beispiel des Novellenfragments herausgearbeitet werden konnte, wie penibel und konsequent Fontane geplant hatte, moderneskepti­sche Denkmuster in die weltanschaulichen Haltungen der beiden Storchs einzuarbeiten, die auf Wechsel reagieren, soll die zweite Deutungsebene Fontanescher ›Ambivalenz‹ noch einmal bedacht werden. Es hat sich fest­stellen lassen, dass es Fontane gelungen ist, Ambivalenz in einem Novellen­entwurf zum Thema zu machen. Im Ergebnis dieses Aufsatzes wird daher vorgeschlagen, Fontanes literarische Darstellung spezifischer Modernitäts­erfahrungen als durchschaute Ambivalenz, als Kompetenz also und nicht etwa als ›handicap‹, zu erfassen. Durchschaute Ambivalenz bezeichnet eine Fiktionskompetenz, die sich anhand von Fragmenten(wie der Novelle Storch von Adebar) deshalb studieren lässt, weil dort, im Unterschied zu vollende­ten Texten, noch nicht gleichmäßig viel ›Durchschauung‹ auf das Erzählte fällt und durch den Erzähler gebrochen wird. So gesehen, fallen Fragmente hermeneutisch weniger komplex aus. 26 Einen in seine Erzählung verstrick­ten, möglichweise selbst mit Ambivalenzen ausgestatteten Erzähler hat Fon­tane erst für jenen Roman erschaffen, der aus dem Konzept des Storch von Adebar hervorgegangen ist: Der Stechlin(1897/98). Insofern Fontane Ambivalenzen durchschaut und sie deshalb in seinen Figuren symptomatisch so anlegen kann, dass sie zumeist ohne tiefere Ein­sichten irritiert, bisweilen sogar orientierungslos auf gesellschaftliche Wechsel sowie kulturelle Herausforderungen reagieren und affektive Ant­worten hervorbringen, die selten überzeugende, allenfalls pragmatische Lösungen enthalten, fallen seine eigenen Haltungen zwangsläufig in eine andere Kategorie. Während sich das Unvermögen des alten Barons, allein