Heft 
(2023) 115
Seite
169
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Fontane und das Erbe der Aufklärung  Woywode 169 Mühe um detaillierte, textnahe Absicherung der Analysen letztlich inhalt­lich argumentiert wird, weshalb die Verfasser der herausgestellten sprach­lichen Naivität der untersuchten Kriegslieder aufsitzen, ihrer stilisierten Simplizität, denn diese Lieder sind bei Fontane wie bei Gleim moralisch ver­werfliche, aber rhetorisch gestaltete Kunstprodukte. Das hätte stärker be­rücksichtigt werden können, würde die Ergebnisse des Beitrags aber nicht fundamental verändern. Außerdem ist es fragwürdig, warum Peter Wrucks Aufsatz zu Fontane in der Rolle des vaterländischen Schriftstellers keine Be­rücksichtigung findet, zumal sogar ein Forschungsbeitrag aus dem Jahr 1940 zitiert wird(vgl. S. 128). Da Wrucks Aufsatz aber von Berbig und Fi­scher zitiert wird, ist das nicht weiter problematisch. Zum Schluss wäre noch zum Beispiel der Beitrag von Anett Lütteken zur Gretchenfrage bei Fontane und seiner vermeintlich entkirchlichten Zeit eingehend zu besprechen oder vielmehr zu würdigen, denn er vermei­det bei diesem sensiblen und komplexen Thema durchgehend unsachge­mäße Vereindeutigungen in beide Richtungen, wie z. B. dann deutlich wird, wenn Fontanes brieflich mitgeteiltes Vertrauen in die Gnade Gottes nicht als wahrheitsgemäße Selbstaussage verstanden wird, sondern als »strikt adressatenorientiert« kenntlich gemacht und damit in seiner Aussa­gekraft relativiert wird(S. 192). Nur das Aufklärungsverständnis erscheint reduziert, wenn Lütteken vom noch im 19. Jahrhundert»omnipräsente[n] aufklärerische[n] Optimismus, in der besten aller Welten zu leben« spricht, der bei Fontane»mitsamt der zugehörigen Fortschrittsgläubigkeit ironisch gebrochen und hinterfragt« werde(S. 190). Hier wäre zu ergänzen, dass Fontane auch darin ein Erbe der Aufklärung ist, denn dieser aufklärerische Optimismus ist doch vor allem ein Leibnizscher, der schon in der Jahrhun­dertmitte durch das Erdbeben von Lissabon einen schweren Schlag erleiden musste und immer wieder aufklärungsliterarischer Satire ausgesetzt war, etwa in den Texten von Swift, Voltaire und Wezel. Das ist eine fast müßige Kritik, denn dieser Band erlaubt es, kleinlich zu sein. Noch eine kleinliche Letztkritik: Im instruktiven Beitrag von Kittelmann zur aufklärerisch-emp­findsamen Geselligkeit bei Fontane begegnet man auf jeder Seite und teils mehrfach dem Begriff der Praktik. Das ist auf Dauer störend und hätte sprachlich besser gelöst werden können, schmälert aber weder den Ertrag dieses Beitrags noch den des ganzen Bandes, der verdeutlicht, dass man auch nach seiner hier noch einmal ans Herz gelegten Lektüre weder mit der Aufklärung noch mit Fontane selbst abgeschlossen haben kann. Wie beim eingehenden Lesen seines umfangreichen und vielseitigen Werks und beim Projekt der Aufklärung selbst steht man vielmehr vor der Aufgabe des le­benslangen Weiterlesens und Hinterfragens: dem Erbe der Aufklärung. Felix Woywode