Heft 
(2023) 116
Seite
54
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54 Fontane Blätter 116 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Kriegsgefangen in den Klangfarben der Übersetzung: Beobachtungen zu Form und Stil Fontane behauptet sich in Kriegsgefangen als Stilist,»der immer wechselnd seinen Stil aus der Sache nimmt, die er behandelt.« 17 In Kriegsgefangen ist die Syntax sinnbildend und verleiht den verschiedenen Erzählabschnitten einen spezifischen Rhythmus. In der Übersetzung werden Rhythmus und Syntax jedoch nur wenig berücksichtigt. Thorel geht eher freizügig mit ih­nen um und bricht die Satzstruktur auch da auf, wo es die Zielsprache nicht erzwingt. Dabei passt er den Stil Geschmack und Zeitgeist an, wie z. B. durch»reizend dahinfließende« 18 französische Perioden, die oft durch zu­sätzlich eingefügte Wörter bzw. Wortgruppen noch weiter anschwellen. Dass vom Deutschen ins Französische übersetzte Texte meist länger ausfal­len als die Originalfassung, ist nicht ungewöhnlich, nimmt aber bei Thorel teils übertriebene Ausmaße an. Ein markantes Beispiel findet sich im Kapi­tel»Lyon «(II; 2), das bereits durch ein Zitat aus Schillers berühmter Glo­ckenballade angekündigt wird; Fontane beschreibt darin das Läuten der Totenglocken:»[] es war tiefe Klage, lauter Hilferuf, leises Gewimmer« (F 88). Inhalt und Satzbau ergänzen sich gegenseitig, die Syntax imitiert den Takt des Glockenschlags. In Thorels Übersetzung lautet die Stelle:»On pouvait se figurer entendre comme une plainte profonde, dominée par de grands cris dappel sonore, et mêlée à mille gémissements.«(T 90) Symmet­rie, Schwung und Dynamik des Ausgangssatzes erschlaffen in einer aus­ufernden, verbal und adjektivisch überfrachteten Übersetzung, die dem fontaneschen Stil eine pathetische Note verleiht. In der Rückübersetzung liest sich das so:»Man konnte sich vorstellen, eine Art tiefe Klage zu hören, die von starken, kräftigen Ruflauten übertönt und von tausenden Wehkla­gen durchsetzt war.« Insgesamt schallt und tönt es in der Übersetzung kräf­tiger als in der Originalfassung, nicht zuletzt aufgrund der hyperbolisch vertausendfachten Wehklagen. Die Textstelle hat nahezu metapoetischen Charakter: Der Erzähler hört aus den Glockentönen die Klagen der Verstor­benen heraus, er leistet also bereits selbst eine metaphorische Überset­zungsarbeit, indem er den Klang in menschliche Stimmen übersetzt. Die polyphonische Grundfrequenz potenziert sich in der Übersetzung umso mehr, als aus dem»leise[n] Gewimmer« gleich»mille gémissements«, tau­sende französische Wehklagen, hervorgehen, was auch die Vervielfälti­gung und Überlagerung auktorialer Stimmen durch den Übersetzungspro­zess versinnbildlicht. Zudem ist das Beispiel charakteristisch für Thorels Umgang mit Fontanes para- und hypotaktischen Satzgebilden: Das Signifi­kat wird dem Signifikanten vorgezogen. Besonders frappierend zeigt sich die Aufspaltung des Inhalts und der sprachlichen Gestaltung auch im Kapi­tel»Guéret«(II, 4), in dem der wehmütig gestimmte Fontane einige Verse in sein Notizbuch schreibt, die in der Übersetzung jedoch nur durch grob