Heft 
(2023) 116
Seite
56
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56 Fontane Blätter 116 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte pourtant, aux endroits nous avions des rivières à traverser, on pouvait admirer de très jolis paysages.«(T 85) In der Übersetzung gibt es bei den Flüssen lediglich»sehr schöne Land­schaften«(»très jolis paysages«) zu sehen die Bildhaftigkeit des maleri­schen Landschaftsgemäldes wird zu einer greifbareren Realität gleichsam ›hinunterübersetzt‹. Außerdem nimmt das Allerweltswort»joli«(»schön«; »hübsch«) wiederholt dem ursprünglichen Bild und Stil seinen»eigentümli­chen Reiz«. Die Änderungen haben aber nicht bloß eine rein ästhetische Bedeutung. Viele von ihnen sind auf den kulturhistorischen Kontext des 19. Jahrhunderts zurückzuführen. Mit der norwegischen Karriolpost an der kulturellen Zollgrenze: Übersetzen im Kontext nationaler Grenzziehungen Die Übersetzung von Kriegsgefangen ist Ende des 19. Jahrhunderts an ei­nen Kontext nationaler Selbstbehauptung geknüpft, in dem Europas natio­nalkulturelle Topografie neu definiert wird. Innerhalb dieser kulturellen Spannungsfelder stehen sich das»Eigene« und das»Fremde« nun verstärkt unter»nationale[n] Abzeichen« 19 gegenüber. Im Frankreich der 1890er-Jah­re entwickelt sich das Interesse für fremdsprachige Kulturen parallel zur Bewegung des Nationalismus, die von einflussreichen Schriftstellerpersön­lichkeiten wie Maurice Barrès oder Charles Maurras geprägt wird. Auf dem literarischen Feld bildet die in den 1890er-Jahren aufkommende Be­geisterungswelle für den russischen Roman den Auftakt zu vermehrten Übersetzungsinitiativen, die die nationalen Schleusen für grenzüberschrei­tende Sprach- und Kultureinflüsse öffnen. Ganz vorn an der kulturellen Grenzlinie steht die Figur des Übersetzers, der in seiner Vermittlerrolle Brücken über sprachliche und kulturelle Differenzen hinweg schlägt. Je­doch spalten Debatten über die zunehmende Internationalisierung der Li­teratur das französische Intellektuellen-Milieu in kosmopolitische und nati­onalistische Tendenzen auf, wodurch der plötzliche Öffnungsimpuls auf patriotischen Gegenwind stößt. Das Phänomen ist jedoch nicht frankreich­spezifisch; entsprechend spiegelt auch in anderen Ländern»der multiple Dialog zwischen Original und Übersetzung« die»binneneuropäischen Kul­turdifferenzen, welche die Übersetzungen nicht nur historisch dokumen­tieren, sondern auch reproduzierend vertiefen« 20 . In der Tat zeugen viele Übersetzungen des 19. Jahrhunderts von einem zwischen Öffnung und kul­tureller Abschottung schwankenden Verhältnis zur»Fremde«. Diese Wi­dersprüchlichkeit ist in Folge des 1870er-Krieges an der deutsch -französi­schen Kulturfront stark spürbar: Romantische Dichter und Denker bilden zusammen mit preußischen Pickelhauben das janusköpfige Deutschland­bild, das die französische Wahrnehmung jenseits des Rheins spätestens seit